Blick über den Tellerrand - Casus-Institut an der Neiße Von Miriam Schönbach, dpa

Interdisziplinär, digital, grenzüberschreitend: Bislang forschen
Wissenschaftler aus sechs Nationen am Casus-Institut im sächsischen
Görlitz zu Klima, Covid 19 und Zukunftsautos. Auch Hacken gehört
zuweilen zum Job.

Görlitz (dpa/sn) - Vom Görlitzer Untermarkt dringt fröhliches
Stimmengewirr aus den Cafés nach oben in die erste Etage. An der
Tafel stehen unverständliche Formeln und Zahlen. An ihren Rechnern im
Büro des Casus-Instituts sitzen Sachin Krishnan Thekke Veettil und
Pia Hanfeld. Die 26-jährige macht ihren Master im Studiengang
«Cybercrime und Cybersecurity» forscht zur IT-Sicherheit
autonomer Fahrzeuge. Die gebürtige Görlitzerin jongliert mit
Begriffen wie Künstliche Intelligenz, Hackerangiffe und
Bioinformatik. Ihre Kollege ist Systembiologe. In seinem Fachgebiet
versucht der Inder biologische Organismen in ihrer Gesamtheit zu
verstehen. Ihr Miteinander am Arbeitsplatz zeichnet das vor einem
Jahr gegründete Zentrum für Systemforschung aus.

«Wir profitieren voneinander und tauschen uns immer wieder aus», sagt
Hanfeld, die gerade an der Universität Breslau lernt, wie Künstliche
Intelligenz funktioniert. Zudem ist sie an der Hochschule Mittweida
in «Allgemeiner und Digitaler Forensik» eingeschrieben. Mit
Computerspielen ist sie groß geworden. Diese Leidenschaft führte sie
zu ihrem Studium, bei dem sie für ihre Abschlussarbeit auch gezielt
die Sicherheitsstandards eines Computerspiels angreifen darf -
gewissermaßen Hacken im Auftrag der Wissenschaft. Gleichzeitig geben
ihr die Erkenntnissen Rückschlüsse für ihr Casus-Projekt. «Ich fi
nde
es wunderbar, dass ich in meiner Heimatstadt zu IT-Sicherheit
forschen kann. Die meisten dieser Jobs sind doch eher in großen
Städten zu finden», sagt die Wissenschaftlerin.

Die Verzahnung der Wissenschaftsgebiete und der ständige Austausch
sind zwei Grundkoordinaten im neu aufgestellten Casus-System. «Wir
haben Mitarbeiter, die über ihren Tellerrand schauen wollen,
erkennen, dass Ideen, die sie gerade bearbeiten, auch woanders
gelten. Sie teilen ihr Wissen und ihre Methoden, so dass zusammen
etwas Neues entsteht», sagt Institutsleiter Michael Bussmann.
Systemforschung habe die Vernetzung unterschiedlichster
Wissenschaftsgebiete im Blick. «Diese Gesamtansicht benötigen wir, um
zu verstehen, was wir in der Zukunft tun müssen.»

Die Casus-Mitarbeiter erforschen mit Hilfe von Modellen, Simulation,
Künstlicher Intelligenz und weiteren digitalen Techniken von der
Neiße aus die Herausforderungen der Zukunft. Entwerfen mit Hilfe
riesiger Rechner Modelle, die vielleicht bislang undenkbar waren. Die
Forschungsgebiete haben immer Verbindungen zu den Initiatoren des
grenzüberschreitenden deutsch-polnischen Instituts. Zu ihnen gehören
das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, das Helmholtz-Zentrum
Dresden-Rossendorf (HZDR), das Max-Planck-Institut für molekulare
Zellbiologie und Genetik, die TU Dresden und die Universität Breslau.

Was wird nun konkret geforscht? Buss zählt nur einiges auf. Um die
Folgen der Luftverschmutzung im urbanen Raum dreht sich etwa ein
Projekt. Auch eine Publikation zur theoretischen Beschreibung des
Inneren von fernen Planeten ist geplant. Wissenschaftlerin Hanfeld
simuliert im Team die Interaktion autonomer Fahrzeuge mit ihrer
Umwelt - mit Hilfe von neuen Algorithmen und KI-Methoden. Und ganz
aktuell ist noch ein weiterer Denk-Schwerpunkt unter dem Dach des
Casus-Instituts dazu gekommen. Er heißt: Casus gegen Covid 19.

Mit Rechnerkapazitäten unterstützen die Wissenschaftler aus sechs
Ländern, darunter USA, Kasachstan, Tschechien, Polen und Indien, die
Suche nach Mitteln gegen das Corona-Virus. Gleichzeitig schauen sie,
wie der Einsatz von Corona-Tests zu optimieren ist. Für den
promovierten Physiker ist die Stadt an der Neiße mit knapp 57 000
Einwohnern jenseits großer Metropolen der richtige Ort für solche
Zukunftsthemen. «Sie müssen Görlitz aus dem Blick des internationalen

Wissenschaftlers betrachten. Er sucht nach einem inspirierenden Ort,
den er hier findet», sagt Bussmann. In einer Arbeitspause trinkt auch
er gern einen Kaffee im Gewimmel am Untermarkt.

Görlitz ist für Bussmann zudem die perfekte Schnittstelle zwischen
den Projektpartnern in Deutschland und Polen in der Mitte Europas.
Die dreijährige Casus-Anlaufphase - Casus steht für »Center for
Advanced Systems Understanding» - finanziert das Bundesministerium
für Bildung und Forschung zu 90 Prozent und stellt mehr als zehn
Millionen Euro zur Verfügung. Zehn Prozent steuert das Land Sachsen
zu. Bis Ende des Jahres sollen 30 Wissenschaftler am Institut
forschen, bis März 2022 sollen weitere 15 Forscher aus
unterschiedlichen Fachrichtungen dazu kommen.

Bewerbungen gehen aus aller Welt ein, so wie jene von Hanfelds
Bürokollege Thekke Veettil. Der junge Wissenschaftler kommt aus dem
Bundesstaat Kerala im Süden Indiens und lebt seit Februar in der
Europastadt Görlitz. Die Institutssprache ist Englisch, der Austausch
mit Fachkollegen, die nicht vor Ort sind - egal ob Dresden und New
York - läuft online und über große Bildschirme. So werden auch die

Einstellungsgespräche geführt. Da schon jetzt der Platz am Untermarkt
knapp wird, ist der Umbau des alten Kondensatorenwerks direkt an der
Neiße geplant. Bis zu 120 Stellen sollen mitelfristig entstehen.