Belgiens Premier: Müssen Konflikte überwinden - heikle Corona-Lage

Zahlreiche Parteien, widerstreitende Regionalinteressen: Die Bildung
einer Regierung dauert in Belgien oft lange. Rund 500 Tage nach der
Wahl hat das Parlament jetzt ein neues Kabinett bestätigt. Auf den
Premier kommt viel Arbeit zu - auch wegen der Folgen der Pandemie.

Brüssel (dpa) - Der neue belgische Regierungschef Alexander De Croo
hat nach dem langen Streit über eine Koalitionsbildung die Opposition
zur Zusammenarbeit aufgerufen. «Lasst uns den Konflikt nicht
künstlich aufrechterhalten. Die Lage ist schwierig genug, während der
vergangenen Jahre hatten wir genug Auseinandersetzungen», sagte der
Liberale laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Belga (Samstag).

Im Anschluss an die Wahl Ende Mai vergangenen Jahres hatte es ein
zähes Hin und Her um die Regierungsbildung gegeben. Die in Flandern
besonders starken rechten Parteien N-VA und Vlaams Belang blieben nun
außen vor. Auch inhaltlich gibt es bei mehreren zentralen Themen
weiter Streit unter den verschiedenen politischen Lagern in Belgien.

Das Parlament sprach dem Kabinett De Croos am Samstag mehrheitlich
sein Vertrauen aus. Jedoch war das Ergebnis mit 87 Ja- und 54
Gegenstimmen bei 7 Enthaltungen durchwachsen. Auf Twitter schrieb der
neue Regierungschef: «Danke für das Vertrauen. Nun an die Arbeit!»

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gratulierte ihm: «Ich freue mich auf
die Zusammenarbeit mit Ihnen im Dienste der Menschen unserer Länder
und für Europa.» De Croo trete sein Amt «in einer Zeit an, in der
unsere Länder und die Europäische Union vor großen Herausforderungen

stehen». So ringt die EU etwa um ihren insgesamt 1,8 Billionen Euro
schweren Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 - ein Teil entfällt auf
das schuldenfinanzierte Konjunkturpaket zum Corona-Wiederaufbau. Man
könne die anstehenden Aufgaben «nur gemeinsam meistern», so Merkel.

Die Pandemie macht Belgien derzeit schwer zu schaffen. Das nach knapp
500 Tagen Hängepartie geschmiedete Bündnis unter Führung De Croos hat

sich vorgenommen, einen Covid-Sonderbeauftragten einzusetzen und mehr
Geld ins Gesundheitswesen zu stecken. Die Corona-Infektionen stiegen
zuletzt weiter. Bis zum vorigen Mittwoch legte die Zahl bestätigter
Ansteckungen auf mehr als 3000 pro Tag zu. Inzwischen starben in dem
Nachbarland nach Angaben des Gesundheitsinstituts Sciensano mehr als
10 000 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus. Am Wochenende lagen
184 Patienten mit schwerem Covid-19-Verlauf auf Intensivstationen.

Der neue belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke riet den
Menschen am Sonntag, die Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts auf
maximal drei Personen zu begrenzen. Er sei «sehr besorgt», sagte der
sozialistische Politiker. Zunächst werde es aber keine Verschärfungen
der staatlichen Schutzmaßnahmen geben. Die Krisenzentren mehrerer
europäischer Länder wollen ihre Abstimmung untereinander verstärken.

Belgien habe dabei die Initiative ergriffen, hieß es.

De Croo setzt darauf, dass die Parteien nun enger zusammenarbeiten.
Seine Koalition will neben dem Gesundheitssystem auch Polizei und
Justiz besser ausstatten. Das 11-Millionen-Einwohner-Land plant
zudem, bis 2025 zumindest teilweise aus der Atomenergie auszusteigen.
Auch eine stärkere Förderung des Schienenverkehrs ist vorgesehen.

«Ich glaube nicht, dass die Opposition so weit entfernt von unseren
Zielen ist», meinte De Croo. Die Koalition besteht aus Liberalen,
Grünen, Sozialdemokraten und flämischen Christdemokraten. «Was wir in

den letzten Jahren gesehen haben, war wirklich überzogen», sagte der
Ministerpräsident. «Versuchen wir stattdessen doch die Kooperation.»


Am Donnerstag war De Croo bei seiner Regierungserklärung noch durch
Zwischenrufe vor allem der rechten Fraktionen unterbrochen worden.
Die zersplitterte Parteienlandschaft in Flandern und der Wallonie ist
ein Hauptgrund für die oft langwierige Regierungsbildung in Belgien.

Der 44-jährige De Croo war seit 2012 Vizepremier und zuletzt auch
Finanzminister. Der Flame folgt nun auf die französischsprachige
Liberale Sophie Wilmès, die Außenministerin wurde. Es sei paradox,
dass selbstverständliches wie freie Reisen durch Europa wegen Corona
eingeschränkt sei, sagte Wilmès am Samstagabend in Brüssel bei einer

Feier zum Gedenken an die deutsche Wiedervereinigung vor 30 Jahren.
«Dies ist ein Moment, in dem wir einmal darüber nachdenken können.»