Spaniens Politik stürzt Hauptstadt Madrid ins Corona-Wirrwarr Von Jan-Uwe Ronneburger und Emilio Rappold, dpa

«Absurd» ist das häufigste Wort, das die Menschen im Corona-Hotspot
Madrid für die verwirrenden Pandemie-Maßnahmen finden. Die Politik
verheddert sich in Grabenkriegen und verspielt das Vertrauen vieler
Bürger. Die Stadt ist nun abgeriegelt. Aber vielleicht nur vorläufig.

Madrid (dpa) - Im Corona-Hotspot Madrid streiten die Politiker über
die richtigen Gegenmaßnahmen, während sich die zunehmend
verunsicherte Bevölkerung irgendwie zu arrangieren versucht. Einen im
Kern recht breiten politischen Konsens bei der Bekämpfung der
Pandemie wie in Deutschland gibt es in Spanien nicht. Die Hauptstadt
weist mit die höchsten Zahlen an Neuinfektionen Westeuropas auf und
ist deshalb wie neun weitere Kommunen im Umland seit dem Wochenende
vom Rest des Landes weitgehend abgeriegelt. Das hatte die linke
Zentralregierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez durchgesetzt,
die der Stadt Untätigkeit vorwirft. Viele Bürger beobachten das
Geschehen fassungslos und werfen der Politik insgesamt Versagen vor.

«Vielen Dank für das Chaos, Pedro», ärgerte sich die konservative
Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso, die sich gegen die Abriegelung
vor Gericht wehrt und sie für eine wirtschaftliche Katastrophe hält.
Experten werfen ihr jedoch vor, zu spät und zu wenig gegen die seit
August wieder steigenden Corona-Zahlen unternommen zu haben.

Der Bürgermeister von Madrid, José Luis Martínez-Almeida, fand für

die Abriegelung nur ein Wort: «Quatsch» sei das. Die
Regionalregierung hatte vor zwei Wochen die Teilabriegelung nur
einiger besonders betroffener Stadtgebiete angeordnet, die die
Bewohner nur aus triftigem Grund verlassen durften. Seit der
Abriegelung der ganzen Stadt dürfen sich nun plötzlich wieder alle
Bürger frei im ganzen Stadtgebiet bewegen. «Es gibt jetzt mehr
Bewegung in der Hauptstadt als gestern», schimpfte der Bürgermeister
am Samstag. «Die Regierung hat Madrid in ein Chaos gestürzt.»

Die betroffenen Bürger machen unterdessen ihrem Unmut über die
absurde Situation Luft. Das Wort absurd sei dauernd in der Stadt zu
hören, schrieb die Zeitung «El País» am Sonntag und zitierte
Passanten: «Es ist absurd, dass ich nach London darf, aber nicht
meinen Cousin in Toledo sehen darf» - «Es ist absurd, dass sich jetzt
alle Leute aus den am meisten betroffenen Gebieten frei in der ganzen
Stadt bewegen dürfen» - «Es ist absurd, dass es nicht mehr Metrozüg
e
gibt, die bisher völlig überfüllt sind». Die Menschen würden der

Politik angesichts des Durcheinanders nicht mehr trauen.

In den abgeriegelten Städten dürfen sich die Bewohner zwar frei
bewegen, diese aber nur verlassen, um etwa zur Arbeit, zur Schule
oder zum Arzt zu fahren. Auswärtige dürfen diese Städte nur in
Ausnahmefällen betreten. Daneben sind unter anderem Versammlungen von
mehr als sechs Menschen verboten, Bars und Restaurants müssen um 23
Uhr schließen.

Die Maßnahmen sollen zunächst für zwei Wochen gelten.
Regionalpräsidentin Ayuso hat gegen die Anordnung des spanischen
Gesundheitsministeriums Einspruch beim Nationalen Staatsgerichtshof
eingelegt. Dieser könnte binnen zehn Tagen entscheiden. Die
konservative Politikerin klagt, Sánchez führe einen «politischen
Krieg» und greife in Kompetenzen der Regionen ein.

Gemäß der umstrittenen ministeriellen Anordnung soll es in Spanien
immer dann Absperrungen geben, wenn in einer Stadt mit mehr als
100 000 Einwohnern binnen 14 Tagen mehr als 500 Neuinfektionen je
100 000 Einwohner registriert werden und mindestens zehn Prozent
aller Corona-Tests positiv ausfallen und die Intensivbetten zu mehr
als 35 Prozent mit Covid-Patienten belegt sind. Nur Madrid und die
neun anderen betroffenen Städte im Umland erreichen derzeit diese
Zahlen.