Nawalny vermutlich vergiftet - Spätfolgen unklar Von Claudia Thaler, Anja Sokolow, Annett Stein und Christian Thiele, dpa
Der Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde vermutlich vergiftet, wie die
Berliner Charité mitteilte. Die Ärzte arbeiten mit Kollegen aus dem
sibirischen Omsk zusammen, wo Nawalny zunächst behandelt wurde. In
Berlin wird der Patient streng bewacht.
Berlin/Moskau (dpa) - Ärzte der Berliner Charité gehen davon aus,
dass der Kremlkritiker Alexej Nawalny vergiftet wurde. Darauf wiesen
klinische Befunde hin, teilte eine Sprecherin der Klinik am Montag in
Berlin mit. Der Gesundheitszustand Nawalnys sei ernst, es bestehe
aber keine akute Lebensgefahr.
Nawalny ist seit Jahren einer der bekanntesten Widersacher von
Kremlchef Wladimir Putin und der führende Kopf der liberalen
Opposition. Auf den Regierungskritiker hatte es schon mehrfach
Anschläge gegeben. Der Aktivist hat sich mit seinen Recherchen zu
Korruption und Machtmissbrauch viele Feinde gemacht. Nawalny spricht
dieses Thema so deutlich an wie kaum jemand sonst in Russland.
Die Bundesregierung rief Moskau erneut eindringlich zur Aufklärung
auf. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD)
forderten am Montag in einer gemeinsamen Erklärung in Berlin:
«Angesichts der herausgehobenen Rolle von Herrn Nawalny in der
politischen Opposition in Russland sind die dortigen Behörden nun
dringlich aufgerufen, diese Tat bis ins Letzte aufzuklären - und das
in voller Transparenz.» Die Verantwortlichen «müssen ermittelt und
zur Rechenschaft gezogen werden». «Wir hoffen, dass Herr Nawalny
wieder ganz genesen kann. Unsere guten Wünsche gelten auch seiner
Familie, die eine schwere Prüfung durchmacht», schrieben Merkel und
Maas weiter. Der Name von Russlands Präsident Wladimir Putin wird in
der Erklärung nicht erwähnt.
Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch bestätigte bei Twitter die
Diagnose. «Sein Zustand ist stabil, aber er liegt noch im
Koma.» Nawalnys persönliche Ärztin Anastassija Wassiljewa twitterte
:
«Alexej ist stark, er kommt durch. Ich habe keine Zweifel.»
Die konkrete Substanz sei bisher nicht bekannt. Die ersten
Untersuchungen deuteten aber auf eine Substanz aus der
Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin, hieß es von der
Charité. Nawalny werde nun mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Die
Wirkung des Giftstoffs sei mehrfach und in unabhängigen Laboren
nachgewiesen worden. Der Ausgang der Erkrankung bleibe unsicher und
Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, könnten zum
jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, so die Sprecherin.
Cholinesterasen sind körpereigene Enzyme, sie sind im Stoffwechsel
unverzichtbar für den Abbau bestimmter Stoffe, insbesondere des
Botenstoffs Acetylcholin im Gehirn. Sogenannte Cholinesterase-Hemmer
hemmen dieses Enzym. Sie sind als Medikamente auch in Deutschland auf
dem Markt. Sie werden etwa bei Alzheimer-Demenz eingesetzt und sollen
bei den Patienten die Kommunikation zwischen Nervenzellen anregen und
so den Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit zumindest leicht
verzögern.
Hemmend auf das Enzym wirkende Substanzen können aber auch in
Pflanzenschutzmitteln oder chemischen Waffen enthalten sein.
Alkylphosphate in Pflanzenschutzmitteln etwa hemmen die
Acetylcholinesterase. Als Sofortmaßnahme bei einer
Alkylphosphatvergiftung gilt die Gabe von Atropin als Gegengift. Die
Erholung des Enzyms dauert mehrere Wochen.
Der prominente russische Oppositionelle liegt bereits seit Donnerstag
im Koma. Zunächst wurde er in einem Krankenhaus in Sibirien versorgt,
am Wochenende aber in die Charité überstellt. Erst nach stundenlangem
Hin und Her hatten die Mediziner in Omsk am Freitag ihre Bedenken
gegen einen Transport nach Deutschland fallen gelassen.
Einer der behandelnden Ärzte in Omsk sagte der Agentur Interfax
zufolge, die Tests bei Nawalny auf Cholinesterasen seien negativ
ausgefallen. Er sei auf verschiedene Betäubungsmittel und andere
synthetische Substanzen hin untersucht worden.
Die russischen Ärzte hatten zunächst von Stoffwechselproblemen
gesprochen. Für eine Vergiftung, wie sie sein engster Kreis bereits
vermutet hatte, gebe es keine ausreichenden Belege, hieß es. Die
Klinik in Omsk erklärte am Montag, dass sie die Ergebnisse der
Labortests und anderer Proben ihren deutschen Kollegen zur Verfügung
stellen wolle. MRT-Aufnahmen seien bereits an die Charité überreicht
worden. Aus Berlin sei im Gegenzug ein Brief eingetroffen, in dem
sich die Mediziner für die Zusammenarbeit bedankt hätten, teilten die
Gesundheitsbehörden mit.
Noch immer sind die genauen Umstände des Falls unklar. Nawalny hatte
bei einer Reise in Sibirien in einem Flugzeug unter Schmerzen das
Bewusstsein verloren. Zudem wurde bekannt, dass er bei dem Aufenthalt
in Sibirien von Sicherheitskräften beschattet worden sein soll.
In der Klinik wird er von Beamten des Bundeskriminalamts (BKA)
bewacht. «Schließlich handelt es sich um einen Patienten, auf den mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Giftanschlag verübt worden
ist», sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin,
noch bevor die Charité ihre Untersuchungsergebnisse bekannt gab.
Nawalnys Team warf den russischen Ärzten vor, unter Druck der
Behörden agiert zu haben. Sie hätten «lange auf Zeit gespielt, bis
das Gift wohl nicht mehr in Nawalnys Körper nachweisbar war», sagte
Nawalnys Mitarbeiterin Ljubow Sobol dem «Spiegel».
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagte dem «Spiegel»: «Obwo
hl
ein starker Verdacht schon bestand, ist die Gewissheit der
Vergiftung schockierend und eine abstoßende Politik der
russischen Führung.» Die Politik der Vergiftung bestehe darin,
Oppositionelle heimtückisch auszuschalten. «Jede
Naivität und Verharmlosung, die immer wieder gerade auch in
Deutschland gegenüber Russland empfohlen wird, ist
deplatziert.»
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