Deutschland im Corona-Rausch? Jeder Dritte trinkt mehr seit der Krise Von Magdalena Tröndle, dpa

Suchtexperten warnten zu Beginn der Coronakrise vor einem Anstieg
schädlichen Alkoholkonsums. Das Szenario scheint sich zu
bewahrheiten, wie erste Zahlen zeigen. Was kann dagegen getan werden?

Berlin (dpa) - Ein kaltes Bier, ein Gläschen Wein: In Zeiten von
Homeoffice, Kontaktbeschränkungen und abgesagten Veranstaltungen
scheinen sich die Deutschen besonders gerne Alkohol zu gönnen. Wie
eine Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in
Mannheim in Kooperation mit dem Klinikum Nürnberg zeigt, stieg der
Alkoholkonsum bei rund einem Drittel der Erwachsenen seit der
Coronakrise. 35,5 Prozent der mehr als 3000 Teilnehmenden gaben bei
der anonymen Online-Umfrage an, während der Covid-19-Pandemie mehr
oder viel mehr Alkohol getrunken zu haben als zuvor.

Die Erhebung ist nicht repräsentativ, liefert aber erste Erkenntnisse
über die Konsumgewohnheiten während der coronabedingten
Ausgangsbeschränkungen. Die Bundesregierung hatte jüngst in einer
Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion auf die Studie
verwiesen. Das ZI in Mannheim ist eine Stiftung des öffentlichen
Rechts des Landes Baden-Württemberg.

Unterdessen berichten Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen
von deutlich mehr Interessenten: «Die Frequenz bei den Anrufen und
bei den schriftlichen Anfragen, dem sogenannten Erste-Hilfe-Button,
hat deutlich zugenommen», sagt Peter K. von den Anonymen
Alkoholikern.

«Risikofaktoren für eine Vermehrung des Konsums waren zum Beispiel
der Wechsel des Arbeitsstatus, etwa ins Homeoffice, ein hohes
gefühltes Stressniveau und Zweifel daran, dass die Krise gut gemanagt
wird», sagt Anne Koopmann vom ZI in Mannheim. Menschen mit einem
hohen Stresslevel und geringerem sozialen Status gaben demnach eher
an, in der Krise mehr Alkohol zu trinken. Menschen in
systemrelevanten Berufen, die weiter arbeiten konnten, tranken den
Angaben zufolge dagegen eher weniger oder behielten ihren Konsum bei.

«Die Coronakrise ist für viele Menschen auch eine emotionale Krise:
Sowohl gesundheitsbezogene als auch finanzielle Sorgen und Ängste
sind für viele Menschen sehr präsent. Alkohol ist ein Mechanismus,
eine kurzfristige Linderung dieser Sorgen zu erleben», erklärte
Koopmann. Das könnte auch erklären, warum der Konsum bei Menschen mit
einem niedrigeren sozialen Status ausgeprägter war. «Hier mehren sich
die Sorgen und es gibt weniger Kompensationsmöglichkeiten.»

Die Nachfragen bei den Anonymen Alkoholikern erklärt sich Peter K.
auch dadurch, dass die Coronakrise bereits bestehende Alkoholprobleme
vieler Menschen sichtbar gemacht habe. «Menschen, die bisher ihr
Trinkverhalten verborgen haben - etwa auf dem Weg zur Arbeit, am
Arbeitsplatz, in der Kneipe - waren durch Corona gezwungen, zu Hause
zu trinken», sagt er. Dort hätten sich die Konflikte in den Familien
und Partnerschaften entladen. Vielen, die bei den Anonymen
Alkoholikern anrufen, sei ihr Problem in der Krise bewusst geworden.

Zu Beginn der Krise hatte die Weltgesundheitsorganisation empfohlen,
den Alkoholkonsum während der Covid-19-Pandemie weitgehend
einzuschränken. In der Empfehlung heißt es: «Es ist wichtig zu
verstehen, dass Alkohol Risiken für Ihre Gesundheit und Sicherheit
birgt und Sie während Zeiten der häuslichen Isolation oder Quarantäne

den Konsum von Alkohol vermeiden sollten.» Dass diese Botschaft nur
bedingt angekommen zu sein scheint, davon zeugen auch zahlreiche
Posts von trinkenden Menschen in den sozialen Medien - etwa unter den
Hashtags «#winemums» oder «#beerdads».

Koopmann betont, dass das Mehr-Trinken über einen längeren Zeitraum
das Risiko für eine Abhängigkeit signifikant erhöhe, aber nicht
zwangsläufig dazu führen müsse. «Diese Krise ist einmalig und es is
t
noch unklar, was das für langfristige Auswirkungen hat.» Studien im
Zusammenhang mit früheren Pandemien zeigten demnach Folgendes:
Mehrere Jahre nach der Pandemie erfüllten diejenigen Probanden, die
länger in Quarantäne gewesen waren, eine höhere Anzahl an Kriterien
für eine Alkohol-Abhängigkeit.

«Jetzt sind wir in der Situation, dem noch entgegenzuwirken», sagt
die Ärztin. Jede und jeder könne sein Trinkverhalten genau
beobachten, dieses etwa mit Hilfe eines Tagebuchs dokumentieren und
sich vielleicht einem Arzt oder einer Beratungsstelle anvertrauen.
«Wenn ich mir über mehrere Wochen und Monate ein gewisses Trinkmuster
angewöhne, muss ich schon aktiv dagegen arbeiten, um wieder von
diesem Muster wegzukommen», erklärt Koopmann.

Peter K. weiß, wie schwer das ist. Er sagt, das Einzige, was helfe,
sei Offenheit, Ehrlichkeit und Konsequenz. Für Angehörige bedeute das
oft auch, Konflikte auszuhalten. Außerdem müsse die Politik die
Bevölkerung mit spezifischen Maßnahmen für die Problematik und
Besonderheit dieser Situation sensibilisieren, meint Koopmann.