Der Corona-Frust und seine Sprengkraft Von Christoph Driessen, dpa

Schwere Ausschreitungen in Stuttgart, Menschen hinter Gitterzäunen in
Göttingen und ein bayerisches Einreiseverbot für Menschen aus
Gütersloh: Was ist los in Deutschland?

Berlin (dpa) - Manchmal hilft der Blick von außen. Das «NOS
Journaal», die «Tagesschau» der Niederlande, streifte den
Wahlkampfauftritt von US-Präsident Donald Trump in Tulsa am
Sonntagabend nur kurz. Der Schwerpunkt lag woanders: «Ein
beispielloser Gewaltausbruch letzte Nacht im deutschen Stuttgart»,
kündigte Moderator Rob Trip an. Es folgte zunächst ein ausführlicher

Bericht aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt, dann
meldete sich «Duitsland»-Korrespondent Wouter Zwart aus Göttingen.

In den Niederlanden sind in den letzten Jahren Bücher erschienen mit
Titeln wie «In Deutschland ist alles besser» und «Wir können nicht

alle Deutsche sein». Die Bilder, die nun aus dem Nachbarland zu sehen
waren, passten dazu allerdings gar nicht: Männer in weißen
Schutzanzügen stehen vor einem Hochhaus, so heruntergekommen, wie man
es in den Niederlanden kaum finden dürfte, dazu große Familien in
engen Behausungen.

«Wir sind Menschen, aber die sollen uns nicht so behandeln wie
Hunde», sagt eine Frau mit einem Kind auf dem Arm in die Kamera. «Die
nehmen uns unsere Luft, unser Atmen.» Korrespondent Zwart zeigt den
Zuschauern die hohen Gitterzäune, mit denen der «Bunker» rundum
abgesperrt ist. Dahinter: traurige Kindergesichter.

Stuttgart, Göttingen und die Schlafhallen der Fleischarbeiter im
Kreis Gütersloh - es sind tatsächlich Szenen, wie man sie so in
Deutschland nicht unbedingt vermutet. Für den Kriminologen Christian
Pfeiffer spiegelt sich in den Bildern eine wachsende soziale Spaltung
der deutschen Gesellschaft. «Der Armutssektor scheint in besonderer
Weise unter Corona zu leiden, und das zeigt sich nicht nur in
Göttingen und anderen Orten, wo soziale Randgruppen in Quarantäne
geraten, sondern eben auch in den Gewaltexzessen, die wir in
Stuttgart beobachten konnten.»

Der Lockdown habe sozial Schwache weit härter getroffen. In
bildungsorientierten Familien habe das Home-Schooling noch
einigermaßen geklappt, nicht aber bei den sowieso schon
Benachteiligten. Es gehe aber auch um die Bewältigung des Alltags:
Ein Bildungsbürger, der gern lese, könne Phasen der Isolierung und
Einsamkeit leichter überbrücken als jemand, der seine Freizeit am
liebsten in der Disco oder im Sportverein verbringe.

Viele junge Männer hätten in den vergangenen Monaten auf den dringend
benötigten Ausgleich verzichten müssen. «Mit vollem Einsatz dem
anderen den Ball weggrätschen - so etwas ist eben schon lange nicht
mehr möglich. Wir haben gerade denjenigen den Zugang zu
Sportaktivitäten verbaut, die am stärksten davon abhängig sind. Da
staut sich ungeheuer viel Frust auf.» Ähnliches gelte für die Disco
und den Musikclub: «Ein ganz wichtiger Ort des Austobens, des
Kennenlernens, der Interaktion, der Rollenübung und Gruppenbildung.»

Der wirtschaftliche Abschwung mache den Schwächeren ebenfalls mehr zu
schaffen. «Ein Familienvater verliert plötzlich seinen Job als
Lastwagenfahrer, das Geld wird knapp, die Wohnung ist eng, und die
Kneipe ist auch noch geschlossen. Meine Sorge ist, dass die sozial
Schwachen hier sehr viel stärker in Stress geraten sind als jene, die
besser dastehen. In dieser Frust-Szene vermute ich ein Potenzial für
Gewalt.»

Der von einigen Politikern und Medien verbreitete Rassismus-Vorwurf
gegen die Polizei hat die Atmosphäre nach Pfeiffers Überzeugung
zusätzlich vergiftet. «Das hat die Polizei in ein völlig falsches
Licht gesetzt und den Corona-Verlierern eine Gruppe genannt, auf die
man wütend sein darf.» Pfeiffer erinnert an den grünen
Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir, der während eines Interviews in
der Stuttgarter Fußgängerzone von einem Passanten mit den Worten
«Polizeidiktatur ist schuld» rüde unterbrochen wurde. «Allein dass

jemand sich erdreistet, auf diese Weise in ein Interview
reinzugrätschen, ist typisch für die Stimmung, die wir in Deutschland
haben.»

Auch Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und
Gemeindebunds, warnt vor sozialen Konflikten. Man müsse sich nur
einmal vor Augen führen, wo die Infektionen verstärkt aufträten: «D
as
sind nicht die Villenvororte in Düsseldorf oder in Berlin, sondern
das ist dort, wo Menschen in beengten Verhältnissen unter nicht
besonders günstigen Umständen leben müssen.» Und dann würden sie

obendrein auch noch als Schuldige abgestempelt.

«Wir müssen aufpassen, dass wir nicht damit anfangen, Sündenböcke z
u
suchen», mahnt Landsberg. «Stellen Sie sich vor, Sie sind jemand, der
bei Tönnies arbeitet. Da werden Sie auf der Straße schief angeguckt.
Oder Sie sind jemand aus dem falschen Häuserblock, dem falschen Kreis
und demnächst vielleicht auch noch aus dem falschen Bundesland.»
Bayern hat die Beherbergung von Menschen aus dem Kreis Gütersloh und
anderen betroffenen Regionen untersagt. Auf der Urlaubsinsel Usedom
wurden 14 Menschen, darunter ein Ehepaar aus Gütersloh, zur
vorzeitigen Abreise aufgefordert. «Das birgt natürlich
Riesensprengstoff», kritisiert Landsberg.

Grenzschließungen sind offenbar ein menschlicher Impuls. Das
Schlechte kommt demnach immer von außen. So führte Deutschland auf
dem Höhepunkt der Pandemie Kontrollen an der Grenze zum
wohlorganisierten Musterländle Luxemburg ein - obwohl das
Großherzogtum die Seuche sehr schnell im Griff hatte. Die deutsche
Maßnahme löste bei den Nachbarn großes Unverständnis aus. Jetzt
riegelt sich sogar die eine deutsche Region gegen die andere ab.

Wie geht es weiter? Viele Beschränkungen sind zurückgenommen worden,
doch das muss nicht so bleiben. Man sehe, «wie zerbrechlich die neue
Normalität ist», sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söde
r
(CSU) am Dienstagabend in der ARD. Es kann immer wieder von vorne
losgehen mit Kontakt-Beschränkungen und Lockdown - siehe Kreis
Gütersloh. Der Landrat des ebenfalls betroffenen Kreises Warendorf,
Olaf Gericke (CDU), sagte am Mittwoch im WDR-Rundfunk, er spüre bei
den Bürgern «eine Wahnsinnsenttäuschung und Wut».

Corona und kein Ende - auch das verstärkt den Frust. Landsberg: «Erst
hieß es: Nach den Osterferien wird alles gut. Jetzt heißt es: Nach
den Sommerferien wird alles gut. Wenn wir es uns aber objektiv
ansehen, dann wird auch nach den Sommerferien nicht alles gut werden.
Im Gegenteil: Wenn der Herbst kommt und es kälter wird und die Leute
nicht mehr so viel draußen sind, wird die Gefahr größer.»

Die Gesellschaft in einem solchen Zustand zusammenzuhalten,
möglicherweise bis ins kommende Jahr, sei alles andere als einfach,
zumal abzusehen sei, dass die wirtschaftlichen Probleme eher noch
zunehmen würden. Irgendwann sei Schluss mit Kurzarbeitergeld.
Landsberg appelliert: «Es sind da nicht nur die Politiker in der
Pflicht. Wir alle sind gefordert.»