Hunderttausende Tote - und ein beispielloses Forschungsrennen Von Anja Garms, dpa

Mit Macht erobert Corona die Welt, und mit Macht steuern Regierungen
gegen. Ein winziges Virus stürzt die Menschheit in eine beispiellose
Krise - und führt zu beispielloser Forschung. Denn nur ein Impfstoff
kann die Pandemie wirklich stoppen.

Berlin (dpa) - Vom chinesischen Wuhan um die ganze Welt: Selten
trifft eine Krise so weltumspannend alle Menschen wie in diesem Jahr
Corona. Sechs Monate nach ersten Meldungen über ein mysteriöses neues
Virus sind fast neun Millionen Infektionen und über 450 000 darauf
zurückgehende Todesfälle in Statistiken gelistet. Die Dunkelziffer
nicht erfasster Fälle gilt als immens.

Wohl niemand ahnte Anfang des Jahres, welches Ausmaß die Pandemie
bekommen und welch schlimme Folgen sie für Wirtschaft und
Gesellschaft haben würde. Anfang Dezember, vielleicht schon im
November treten in der Millionenmetropole Wuhan erste Fälle einer bis
dahin unbekannten Lungenerkrankung auf. Am 31. Dezember werden sie
offiziell an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet. Ein
Tiermarkt gilt als Ursprung der Ansteckungswelle.

Im Februar sagt der Berliner Virologe Christian Drosten: «Ich glaube
nicht mehr daran, dass eine Pandemie vermeidbar ist.» Und so immens
die Infektionszahlen inzwischen wirken: Wir stehen noch immer am
Anfang. Etwa 7,8 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Selbst ein
sehr ansteckendes Virus braucht eine Weile, eine solche Population zu
erobern - zumal alle Regierungen der Welt mit gezielten Maßnahmen
gegensteuern, wenn auch manche nur verhalten.

Deutschland gehört zu den recht rasch und massiv reagierenden
Ländern. Mit grauenhaften Bildern aus bereits stark betroffenen
Staaten wie Italien konfrontiert, beschließt die Politik zahlreiche
strenge Maßnahmen. Manche - wie Schulschließungen und Maskenpflicht -
sind anfangs oder bis heute umstritten. Einzelne Bundesländer wie
Bayern preschen mit besonders strengen Regelungen voran. Ein unguter
Überbietungswettbewerb sei da im Gang, sagen Kritiker.

Ende März, Anfang April erreicht die Zahl der täglich gemeldeten
Neuinfektionen in Deutschland ihren Höhepunkt, dann sinkt sie
deutlich. Erste Lockerungen folgen. Mit der Entspannung mehren sich
kritische Stimmen, die sagen, der Lockdown sei doch eigentlich gar
nicht nötig gewesen.

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sagt, schon das Verbot von
Großveranstaltungen habe zu einem Rückgang geführt, weitere Maßnahm
en
wie Kontaktbeschränkungen hätte man vom weiteren Verlauf abhängig
machen sollen. Die Virologin Melanie Brinkmann vom Braunschweiger
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) zieht hingegen ein
weitgehend positives Fazit. «Ich denke, dass wir im Großen und Ganzen
richtig gehandelt haben.»

Momentan wird das Infektionsgeschehen hierzulande von einzelnen
Ausbrüchen wie beim Schlachtbetrieb Tönnies in Ostwestfalen bestimmt.
Sie lassen die sonst ruhige Situation trügerisch wirken und geben
einer entscheidenden Frage neuen Auftrieb: Kommt sie, die zweite
Welle? Eine sichere Antwort darauf haben Experten nicht. Virologe
Drosten blickt skeptisch in die Zukunft: «Ich bin nicht optimistisch,
dass wir in einem Monat noch so eine friedliche Situation haben wie
jetzt, was die Epidemietätigkeit angeht.» Man müsse alle
Alarmsensoren wieder anschalten. Die Bevölkerung müsse einsehen, dass
die Gesundheitsbehörden Unterstützung und Konsens bräuchten.

Derweil läuft die Suche nach Medikamenten gegen die vom Virus
verursachte Krankheit Covid-19 auf Hochtouren. Derzeit hat ein
einziger Wirkstoff - Remdesivir - in den USA und Japan eine
Sonderzulassung gegen Covid-19. In der EU liegt ein Zulassungsantrag
bei der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA). Mitte Juni wurden
vorläufige Studiendaten zum Entzündungshemmer Dexamethason bekannt:
Der Wirkstoff senkt demnach die Sterberate bei künstlich beatmeten
Patienten um ein Drittel. Für eine abschließende Beurteilung sei es
aber zu früh, warnen Experten.

Klar sind inzwischen auch einige Faktoren, die zu bedrohlichen
Erkrankungen führen. «Wir wissen mittlerweile, dass es bei schweren
Verläufen neben der Entzündung der Lunge häufig zu
Gerinnungsstörungen kommt, die die Behandlung erschweren», nennt Uwe
Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für

Intensiv- und Notfallmedizin, ein Beispiel. Behandelt werde nun von
Anfang an prophylaktisch mit gerinnungshemmenden Medikamenten.

Ein echtes Aus für die Pandemie könnte ohnehin nur ein Hilfsmittel
bringen: gut wirksame Impfstoffe. Ob ein Impfstoff noch in diesem
Jahr für erste Massenimpfungen zur Verfügung stehen wird, ist
fraglich - zudem muss der erste Impfstoff nicht zwingend der mit der
besten Schutzwirkung sein. Die Schnelligkeit dürfte nicht zulasten
der Sicherheit gehen, wird immer wieder gemahnt.

Anfang Juni liefen weltweit mindestens 130 Impfstoff-Projekte, einige
Kandidaten werden bereits am Menschen getestet. Am weitesten
fortgeschritten ist die Forschung am Impfstoff AZD1222, entwickelt an
der britischen Universität Oxford. Etliche Länder - auch Deutschland
- haben mit dem Konzern AstraZeneca Verträge über insgesamt
mindestens zwei Milliarden Dosen dieses Impfstoffes abgeschlossen.

Auch Deutschland hat vielversprechende Projekte zu bieten: Beim
Mainzer Unternehmen Biontech und beim Tübinger Unternehmen CureVac
laufen erste klinische Studien zu Impfstoffen. Ob sie am Ende zu den
Wirkstoffen gehören werden, die der Corona-Pandemie ihren Schrecken
nehmen, wird sich zeigen.