Fall Tönnies bringt Schlachtbranche immer stärker unter Druck

Mehr als 1300 Infizierte, die Produktion gestoppt, eine ganze Region
im Stress: Der Fall Tönnies löst grundsätzliche Kritik am Agieren der

Schlachtbetriebe aus. Muss die Firma auch finanziell geradestehen?

Berlin (dpa) - Nach dem großen Corona-Ausbruch beim Branchenriesen
Tönnies geraten das Unternehmen und die ganze Schlachtindustrie immer
stärker unter Druck. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
brachte am Montag angesichts der Masseninfektionen im Fleischwerk von
Tönnies in Westfalen eine mögliche Haftung für Schäden auch im
Umkreis ins Gespräch. Regierungssprecher Steffen Seibert bekräftigte,
Gesetzesverschärfungen für bessere Arbeitsbedingungen ab Anfang 2021
würden «mit Dringlichkeit» vorangetrieben. Die zuständigen Länder
und
der Zoll seien auch schon jetzt gefordert, stärker zu kontrollieren.

Heil sagte in der ARD mit Blick auf den Fall Tönnies: «Ich glaube,
dass wir prüfen müssen, welche zivilrechtlichen Haftungsmöglichkeiten

es gibt in diesem Bereich.» Es entstünden erhebliche Kosten für
Gesundheitsbehandlungen, «aber auch für das, was da in der Region los
ist». Er erwarte von dem Unternehmen, «dass alles getan wird, um den
Schaden zu begrenzen, um tatsächlich auch einzustehen für das, was da
angerichtet wurde.» Tönnies hatte am Sonntag in Aussicht gestellt,
die Kosten flächendeckender Tests im Kreis Gütersloh zu übernehmen.

In der Fleischfabrik im westfälischen Rheda-Wiedenbrück waren mehr
als 1300 Arbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden. Die
Produktion wurde vorerst für 14 Tage gestoppt. Um die Ausbreitung
einzudämmen, wurden auch schon Schulen und Kitas schlossen, laut
Landesregierung wurde für 7000 Menschen Quarantäne angeordnet.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte angesichts der hohen
Infektionszahl ein Krisentreffen von Bund und Ländern. Das System der
Agrar- und Fleischproduktion müsse sich grundlegend ändern, sagte sie
in Berlin. «Für das Billigfleisch zahlen Arbeiter, Bauern und Tiere
einer ganzen Region einen extrem hohen Preis.» Schlachthöfe müssten
bundesweit sicherer gemacht werden. Agrarministerin Julia Klöckner
(CDU) müsse die Agrar-, Gesundheits- und Arbeitsminister von Bund und
Ländern einladen, um für gemeinsame Standards für ganz Deutschland zu

sorgen.

Als Konsequenz bereits aus früheren Corona-Ausbrüchen in der Branche
hatte das Kabinett Ende Mai Eckpunkte für Neuregelungen beschlossen.
Kernpunkt ist ein weitgehendes Verbot von Werkverträgen - also dass
die komplette Ausführung von Arbeiten bei Subunternehmern eingekauft
wird. Das Schlachten und Verarbeiten von Fleisch soll ab 1. Januar
2021 nur noch mit Arbeitnehmern des eigenen Betriebes zulässig sein.
Dies soll auf große industrielle Fleischwerke zielen, aber nicht auf
kleinere Handwerks-Schlachtereien. Heil will im Sommer einen
Gesetzentwurf vorlegen und die Regeln schnellstmöglich umsetzen.

Ministerin Klöckner stellte klar, es gehe leider nicht um einen
Einzelfall in der Schlachtbranche. «Das System kann so nicht
fortbestehen», sagte sie der «Passauer Neuen Presse» (Montag). Wenn
Schlacht-Engpässe länger andauerten, setze das auch Landwirte unter
Druck. Tiere seien nur eine bestimmte Zeit über die normale Mastdauer
hinaus zu halten, es gebe Kapazitätsgrenzen in den Ställen. «Hier
suchen wir nach Lösungen», sagte die Ministerin. «Ob die
Just-in-time-Produktion und -Lieferung das Wahre ist, bezweifle ich.»

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagte dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland: «Die Fleischindustrie hat ein System aufgebaut, in dem
Arbeitskräfte wie Glieder einer Lieferkette behandelt werden: Alles
muss möglichst billig sein.» Die Politik habe die Aufgabe, gute
Arbeitsbedingungen und artgerechte Tierhaltung zu gewährleisten.
«Natürlich verteuert das die Produkte.» Deshalb müssten Klein- und

Mittelverdiener «mehr Geld in der Tasche haben - durch faire Löhne
und ein gerechtes Steuersystem». Klöckner strebt nun auch eine
Tierwohl-Abgabe an, die auf Fleisch und anderes aufzuschlagen wäre.

Unionsfraktionsvize Georg Nüßlein forderte, die Transportwege für
Schlachtvieh stärker zu begrenzen. «Das dient dem Tierwohl und wird
automatisch die gefährliche Konzentration auf einige wenige
Schlachthöfe beenden», sagte der CSU-Politiker der «Augsburger
Allgemeinen» (Montag). «Es ist doch ein Wahnsinn, wenn zuerst die
Schlächter aus Osteuropa nach Deutschland geholt und dann die
Schweine hinterhergekarrt werden.»