Sozialexperten zu Göttingen: Corona-Krise trifft Arme besonders hart Interview: Thomas Strünkelnberg, dpa

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind kaum absehbar. Die
Landesarmutskonferenz Niedersachsen fürchtet, dass vor allem Menschen
mit wenig Einkommen die Folgen hart spüren werden. In Göttingen ist
die Lage eskaliert. Wird nun eine Zunahme sozialer Unruhen erwartet?

Hannover (dpa/lni) - Die Landesarmutskonferenz Niedersachsen sieht
vor allem arme Menschen von den Folgen der Corona-Pandemie bedroht.
Ohnehin lebten Menschen mit geringem Einkommen oft unter prekären
Umständen, angesichts steigender Arbeitslosenzahlen würden außerdem
absehbar immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen, warnt der
Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz, Klaus-Dieter Gleitze.
Aktuell überlagert die Krise zwar das Problem der ständig steigenden
Mieten vor allem in Großstädten. Aber manchmal breche sich der Zorn
Bahn - wie bei den Ausschreitungen rund um einen unter Quarantäne
stehenden Wohnkomplex in Göttingen.

Frage: Nach der Gewalt in Göttingen bekommt man den Eindruck, das
Corona-Virus trifft vor allem arme Menschen. Ist das so?

Antwort: Arme Menschen leben in prekären Wohnsituationen, sie leben
oft in sozialen Brennpunkten mit vier, fünf, sechs
Familienmitgliedern auf 60 Quadratmetern ganz eng zusammen. Da ist
die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen gar nicht gegeben. Im
Vergleich mit Menschen in einer privilegierten Wohnsituation, in
einer Villa mit 1000 Quadratmetern Garten, die eventuell sogar die
Möglichkeit haben, sich aufs Land zurückzuziehen, bedeutet das eine
massive Beeinträchtigung der Gesundheit, der Teilhabe und der
Möglichkeit an Gesundheitsprävention.

Frage: Heißt das, Covid-19 entwickelt sich zum Armutsproblem?

Antwort: Das steht leider zu befürchten, auch wegen der wachsenden
Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenzahlen sind deutlich gestiegen, wir
haben inklusive Unterbeschäftigung fast vier Millionen Betroffene.
Fast zehn Millionen sind in Kurzarbeit, und wir wissen absolut nicht,
wann und wie wir aus dem konjunkturellen Tief herauskommen. Menschen,
die zum Beispiel im Gaststätten- oder Hotelgewerbe, im kulturellen
oder im Dienstleistungssektor arbeiten, werden sofort unter die
Armutsgrenze fallen, wenn sie arbeitslos werden. Es steht zu
erwarten, dass die Armutsquote deutlich zunehmen wird - auch vor dem
Hintergrund, dass sie in den letzten zehn Jahren Dauer-Hochkonjunktur
nicht nennenswert abgenommen hat. Wir haben im Vergleich zur Mitte
der Neunziger eine um 50 Prozent höhere Armutsquote.

Frage: Welche Gruppen sind noch bedroht?

Antwort: Man darf nicht vergessen: Es gibt ganz viele Menschen, die
wohnungslos und obdachlos sind - für die ist das natürlich besonders
dramatisch. Sie können im Moment nicht auf Notunterkünfte
zurückgreifen, sie müssen auf der Straße leben und sind zusätzliche
n
massiven Gesundheitsrisiken ausgesetzt, die ja ohnehin schon höher
sind als die von normalen Menschen. Und an den sozialen Brennpunkten
leben oft Menschen, die ein geringeres Bildungs- und
Informationsniveau haben, oft mit Migrationshintergrund, und die
mitunter gar nicht verstehen, worum es überhaupt geht.

Frage: Was für Folgen hat das? 

Antwort: Wenn Maßnahmen verkündet oder aber diese Menschen
aufgefordert werden, sich testen zu lassen, hapert es manchmal an
Verständnis. Da müsste man mit ganz anderen Informationsangeboten
herangehen, zum Beispiel mit niedrigschwelliger, einfacher Sprache
oder Piktogrammen. Das sind grundsätzliche, auch interkulturelle
Schwierigkeiten, die durchaus zu Gewaltausbrüchen wie in Göttingen
führen können.

Frage: Was bedeutet die Corona-Pandemie konkret für arme Menschen?

Antwort: Das fängt bei ganz existenziellen Situationen an -
Stichwort: Ernährung, Lebensmittel. Gerade arme Menschen, die im
Schnitt bis zu sieben Jahre früher sterben als andere, sind besonders
auf frische Lebensmittel angewiesen, um das Immunsystem zu stärken.
Und Preise für Lebensmittel haben in der Spitze wie bei Blumenkohl
und Paprika über 50 Prozent zugelegt - als Folge der Corona-Krise.
Die Preissteigerungen sind für Hartz-IV-Bezieher eine existenzielle
Bedrohung, zumal nach wie vor fast 200 Tafeln nicht geöffnet haben
und den Menschen diese Notlösung verwehrt ist. Ohnehin ist es ein
Skandal, dass es fast 1000 Tafeln in Deutschland geben muss und 1,6
Millionen Menschen die jedes Jahr nutzen müssen.

Frage: Was heißt das für die Gesellschaft?

Antwort: Ich fürchte, wir werden aufgrund der wachsenden Spaltung der
Gesellschaft zunehmend soziale Unruhen erleben, aus Angst, aus
Bedrohung, aus existenziellen Nöten heraus. Und die Wohnsituation,
unser großes Thema in den letzten Jahren, ist zwar wegen Corona aus
der Diskussion verschwunden. Aber nicht von der Tagesordnung
verschwunden ist die grundsätzlich dramatische Wohnungssituation in
den Ballungsgebieten - Stichwort Gentrifizierung, Stichwort Anstieg
der Mieten. Dass Menschen mitunter in Großstädten über 40 Prozent
ihres Nettoeinkommens für Miete bezahlen müssen, das ist als
grundsätzliches Problem nicht vom Tisch. Das wird im Moment nur
überlagert. Aber wenn man sich solche Entwicklungen ansieht wie jetzt
in Göttingen, dann bricht es sich eben doch Bahn.

Frage: Was muss getan werden, damit die Pandemie nicht ausschließlich
zum Problem für arme Menschen wird?

Antwort: Wir müssten für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Wir
müssen uns ganz dringend um Obdachlose kümmern, weil wir nicht
wissen, ob wir im nächsten Winter eine Verschärfung der Krise haben
werden. Wir müssen über die Anmietung von Hotels für Obdachlose
nachdenken. Wir müssen sofort die Hartz-IV-Regelsätze um 100 Euro pro
Monat erhöhen. Die Armutskonferenz hat auch ein sogenanntes
Helikoptergeld von 1000 Euro gefordert, also eine Einmalzahlung für
arme Menschen. Menschen, die ständig rechnen müssen, sind mit der
Bezahlung von Masken schon überfordert. Die können sich auch kein
Handy leisten, um die Corona-Warn-App herunterzuladen.

Und man muss natürlich überlegen, wer die Kosten dieser Krise tragen
wird. Da muss man auch wieder mehr über soziale Gerechtigkeit und
Verteilungsgerechtigkeit diskutieren - und darüber, ob Superreiche
durch eine Vermögenssteuer oder eine Erbschaftsteuerreform sozial
gerecht an der Finanzierung der Kosten dieser Krise beteiligt werden.

ZUR PERSON: Klaus-Dieter Gleitze (67) ist Geschäftsführer der
Landesarmutskonferenz Niedersachsen. Das Gremium ist ein
Zusammenschluss von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und
Initiativen.