Spanien am Tag eins nach Corona-Notstand: Lädiert und doch lebensfroh Von Jan-Uwe Ronneburger und Emilio Rappold, dpa

Die Spanier haben schwer gelitten. Mindestens 28 000 Corona-Tote, ein
brutaler Wirtschaftseinbruch und eine ungewöhnlich strikte
Ausgangssperre. Die ist nach 98 Tagen nun vorbei. Jetzt soll es
wieder aufwärts gehen.

Madrid (dpa) - Marco setzt sich mit Frau Puri, den zwei kleinen Jungs
und dem großen Schäferhund in den Wagen und ruft: «Wir fahren zum
Mittagessen raus aus Madrid. So feiern wir, dass wir nach 98 Tagen
keine Gefangenen in der eigenen Stadt mehr sind.» Nicht nur für die
«Madrileños» wie Marco begann an diesem Sonntag die große Freiheit.

Nach dem Ende des Corona-Notstands um Mitternacht dürfen sich die 47
Millionen Spanier erstmals wieder im ganzen Land frei bewegen.

Sie können nun alle wieder reisen, wohin sie wollen: von Madrid
endlich wieder an die Strände, aus Barcelona in die Pyrenäen oder von
Málaga ins Baskenland. Ein Deutscher, der von Madrid nach Barcelona
unterwegs war, erzählt am Telefon, es gebe auf der Autobahn acht Mal
mehr Fahrzeuge als in den vergangenen Tagen. «Und fast alle sind
Richtung Küste unterwegs.» Das Fernsehen berichtet von ersten Staus,
etwa auf der Landstraße zwischen Valencia und dem 40 Kilometer weiter
südlich gelegenen Badeort Cullera.

In der «neuen Normalität», wie sie offiziell heißt, gibt es weiter

Maskenpflicht. Desinfektionsgel und Plastikscheiben bleiben aktuell.
Dennoch herrscht Aufbruchstimmung. Verständlich: Corona hat das Land
mit einer Wucht getroffen, wie das aus deutscher Sicht nur schwer
nachzuvollziehen ist. Wer mit den Menschen in Cafés und auf Märkten
spricht, hört von Ängsten - und auch von Zorn. Zorn auf ihren Staat,
der sich so viel schwerer tat als andere mit der Bekämpfung der
Krise.

«Warum hat man uns wochenlang eingesperrt, während in Deutschland
alle noch spazieren gehen und sich in die Parks setzen durften?»,
fragt eine Katalanin erbost. 68 Prozent aller bei einer Umfrage von
Eurobarometer befragten Spanier sind mit der Krisenpolitik der
Regierung unzufrieden, der höchste Wert vor Polen und Frankreich. Die
Mehrheit hielt sich aber diszipliniert an die drastischen Maßnahmen.

Nach Öffnung der Grenzen für Besucher aus dem Schengen-Raum treffen
auch die ersten Touristen auf dem spanischen Festland ein. In
Barcelona landen viele Maschinen, auch aus Berlin und Düsseldorf.
Medizinstudentin Ana freut sich nach der Ankunft aus Amsterdam, dass
sie nach fünf Monaten ihren niederländischen Vater und ihre spanische
Mutter wieder in die Arme nehmen kann. «Das war schon hart.» Der
TV-Sender RTVE berichtet von «sehr vielen bewegenden Wiedersehen» auf
den Flughäfen.

Die Pandemie hat das Land kalt erwischt. Noch am 4. März, als es nur
einige wenige erkannte Covid-19-Fälle gab, sich das Virus im Land
aber vermutlich gerade schon rasend schnell verbreitete, kam der
Nationale Sicherheitsrat unter Leitung von König Felipe VI. und
Regierungschef Pedro Sánchez zur Einschätzung, dass Spanien sich über

eine Pandemie keine Sorgen zu machen brauche.

Tatsächlich wurde bei der Sitzung eine in den Monaten zuvor
erarbeitete Risikoanalyse diskutiert. Von Covid-19 war nur ganz am
Rande die Rede. Nur zehn Tage später brachten die Verantwortlichen,
geschockt durch rasant steigende Corona-Zahlen, das Land mit einer
Vollbremsung zum Stillstand. Diese Sitzung des Sicherheitsrats ist
für die Zeitung «El País» ein Beispiel für die Unfähigkeit des

Staatsapparats, flexibel auf eine neue Lage zu reagieren.

Was dann folgte, waren schreckliche Wochen. Die weitaus meisten
Corona-Fälle gab es in Madrid und Barcelona, vor allem in
Altenheimen. Bis zu 1000 Tote pro Tag, überforderte Institutionen,
mit dem Tod ringende Patienten auf den Fluren der Krankenhäuser, ein
Wintersportpalast zur riesigen Leichenhalle umfunktioniert,
Beerdigungen, die Angehörigen nur online verfolgen durften,
ausgestorbene Metropolen. Bilder, die viele nie vergessen werden.

«Wir hatten zeitweise echt Panik, nur kurz zum Einkaufen aus dem
Haus, danach alle Einkäufe desinfizieren und dann unter die Dusche,
die Kleidung in die Waschmaschine» erzählt Carina, die während des
Lockdowns mit ihrer kleinen Tochter in Madrid war. Das Mädchen durfte
wie alle Kinder sechs Wochen lang nicht ein einziges Mal auch nur
einen Fuß über die Schwelle der Wohnungstür setzen. Als das endlich
wieder erlaubt war, war sie ängstlich, wagte es kaum.

Aber es gab auch viele rührende Augenblicke. «Einmal kamen Polizisten
und sangen auf der Straße unter unserem Fenster ein Geburtstagslied»,
erzählt die Frau. Nachbarn halfen einander, machten Besorgungen für
Ältere, spendeten für Bedürftige, Hunderttausende klatschten jeden
Abend an Fenstern und Balkonen Beifall für das Gesundheitspersonal.

Die Politik trug nicht immer dazu bei, die Krise erträglicher zu
machen. Anders als in Deutschland gab es keinen Schulterschluss
angesichts der Gefahr. Die rechte Opposition lief Sturm gegen die
linke Regierung von Sánchez und warf ihr völliges Versagen vor.
Oppositionsführer Pablo Casado von der konservativen Volkspartei (PP)
bezichtigte die Regierung der Lüge, in Wirklichkeit gebe es viel mehr
Tote als offiziell vermeldet. Die PP und die rechtspopulistische Vox
wetteiferten darum, wer am schärfsten verbal gegen Sánchez austeilt.

Inzwischen hat sich das Land aus der Krise herausgekämpft. Es gibt
nur noch wenige Neu-Infektionen und kaum noch Corona-Tote. Was auch
nach dem Ende des Notstands bleibt, sind die Maskenpflicht und viele
Einschränkungen bei Restaurants, Museen und Kinos. Und riesige Löcher
in öffentlichen und privaten Kassen. Für die Spanier geht es jetzt
darum, die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen der Krise zu meistern.