«Eine andere Welt war möglich»: Es lebe die Lockdown-Nostalgie? Von Marco Krefting und Gregor Tholl, dpa

Kurze Wege zur Arbeit, Ruhe selbst mitten in der Stadt und Rücksicht
bei den Mitmenschen: Angesichts der Lockerungen und des wieder
anschwellenden Alltagslebens sehnt sich mancher zurück in die Zeit
der großen Corona-Beschränkungen. Ein Tabu?

Berlin (dpa) - Plötzlich ist sie bei vielen wieder da, diese innere
Unruhe. Und mancher denkt still und heimlich: Was waren das damals -
also vor ein paar Wochen - noch für Zeiten, als in der Corona-Krise
fast alles stillstand! «Ich mochte die Ruhe», bekennen manche jetzt
freimütig unter engen Freunden oder in sozialen Netzwerken. Die weit
verbreitete Rücksicht der Mitmenschen sei schön zu erleben gewesen,
insgesamt das Gefühl, dass es doch auch ganz anders ginge, nicht für
alle natürlich, aber doch für viele. «Eine andere Welt war möglich.
»

Der Schauspieler Mark Waschke («Tatort») sagte den Zeitungen der
Funke Mediengruppe, «das Anhalten des Kapitalismus, das Ausbremsen
des Einfach-weiter-so-Konsumierens» habe ihn inspiriert. «Wir haben
uns alle besonnen und konnten schauen, was uns im Leben wirklich
wichtig ist. Und das ist auch kein Kitsch im Angesicht der
gesellschaftlichen Herausforderungen, die uns gegenüber stehen.»

Natürlich gehört es nicht zum guten Ton, ein Hoch auf die
Corona-Beschränkungen zu singen. Und so bemühen sich alle auch, zu
betonen, dass der persönliche Eindruck das Leid der vielen, die unter
der Krise gelitten haben, nicht mindern solle.

«Jetzt weiß ich, dass ich vor Corona zuweilen doch recht gestresst
war - auch wenn mir das eigentlich nie bewusst gewesen ist», bekennt
ein Youtuber aus Hamburg - und freut sich im Nachhinein über das
gesellschaftlich heruntergefahrene Leben, auch wenn der sogenannte
Lockdown in Deutschland nie so streng war wie etwa in einigen
Nachbarländern. «Man ist halt normalerweise in so etwas drin, das
keinen Ausbruch zulässt.» Er fühle sich fast geheilt von der
sogenannten FOMO, der Fear of missing out, der Angst, etwas zu
verpassen, die in der Social-Media-Ära oft herrsche.

Corona hat dazu geführt, dass «Cocooning» zum Standard wurde. Wer
sich zurückziehen wollte, gewissermaßen in einen Kokon (daher der
Begriff), brauchte keine faule Ausrede mehr: Ohne «triftigen» Grund
durfte man etwa in Bayern das Haus zu Beginn der
Anti-Pandemie-Maßnahmen nicht verlassen - selbst auf einer Bank
sitzen in der Sonne werteten manche Polizisten als «nicht triftig».
Überall galten Kontaktverbote - mal für Leute außerhalb des eigenen
Hausstands, mal außerhalb der Familie.

Damit einhergehend wurde ein weiterer Trendbegriff zur Norm:
hyggelig. Das aus dem Dänischen stammende Wort für Gemütlichkeit
erhielt im wörtlichen Sinne Einzug in die heimischen vier Wände oder
auch den Garten: Wie die Weltmeister machten es sich die Leute schön
und entrümpelten ihre Wohnungen. Viele entdeckten - womöglich auch
beim Aufräumen - alte Kochbücher wieder. Passend, wo Restaurants doch
geschlossen hatten.

Da zudem zwischenzeitlich Lebensmittelmärkte mehr oder weniger die
einzigen geöffneten Läden waren, gerieten einige in einen
regelrechten Kaufrausch und zauberten daheim Gerichte aus exotischen
Zutaten, die sie nie probiert hatten. Der einstige Twitter-Trend,
sein Mittagessen zu fotografieren und der Welt zu präsentieren, wurde
wiederbelebt.

Wer arbeiten konnte beziehungsweise musste - und das von zu Hause aus
und im Idealfall ohne parallele Kinderbetreuung - lernte das
Homeoffice schätzen: aufstehen, frisieren, ein paar Schritte zum
Arbeitsplatz. Abends abmelden - und zack auf der Couch.

Zum Abschalten blieb nicht viel mehr übrig, als vor der eigenen
Haustür seine Runden zu drehen. Spaziergehen in der Natur wurde
kurzerhand neuer Volkssport und viele entdeckten die Heimat -
erstmals oder wieder. Sie schwärmten von den Ausflugszielen in der
nahen Umgebung, als hätte es die Felder und Wälder, die Seen und das
Meer oder die Berge vorher nicht gegeben.

Angesichts von soviel Zeitvertreib mit Flora und Fauna mutierte
mancher zum Naturkundler und kann nun Bäume anhand der Rinde
unterscheiden oder Asiatische von heimischen Marienkäfern.

Im Corona-Fragebogen der «NZZ» (Neuen Zürcher Zeitung) antwortete
Entertainer Harald Schmidt Ende April auf die Frage, was ihm gar
nicht fehle: «Besuche, Umarmungen, Küsschen links/rechts, spontane
Nackenmassage im Vorbeigehen.» Und auf die Frage, ob die Krise auch
gute Seiten habe? «Jede Menge. Flugscham überflüssig, Heizöl billig
,
Solidarität groß. Und wir kennen endlich den Grund für die leeren
Kirchen.» Der Koch und Autor Vincent Klink meinte Ende Mai zu den
guten Seiten der Krise: «Lehrreich ist auch die Widerlegung
zeitgeistiger Hybris, des «anything goes».» Und zu der NZZ-Frage, ob

die Welt nach der Pandemie eine andere sein werde: «Für Leute mit
genügend Hirnschmalz ja, der Rest ist nachweislich sehr vergesslich.»