EU-Staaten bei 750-Milliarden-Plan weit auseinander

Die 27 EU-Staaten wollen ein Milliardenpaket zur Bewältigung der
Corona-Wirtschaftskrise auflegen. Doch etliche Knackpunkte sind hoch
umstritten. Nicht nur Deutschland meldet Bedenken an.

Brüssel (dpa) - Die Verhandlungen über das 750-Milliarden-Programm
zur Bewältigung der Corona-Wirtschaftskrise drohen zu einer
Zerreißprobe für die EU zu werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel
machte am Freitag nach einer Videokonferenz mit den anderen
europäischen Staats- und Regierungschefs deutlich, dass schwere
Wochen bevorstehen könnten. Auch die Bundesregierung sieht an
etlichen Stellen Nachbesserungsbedarf. «Die Brücken, die wir noch zu
bauen haben, sind groß», sagte Merkel. Deutschland übernimmt am 1.
Juli für sechs Monate die Ratspräsidentschaft in der EU.

Die Zeit drängt. Die Aussichten für Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind
düster. «Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass wir vor der
größten wirtschaftlichen Herausforderung in der Geschichte der
Europäischen Union stehen», sagte auch Merkel. Mitte Juli will
EU-Ratschef Charles Michel bei einem weiteren EU-Gipfel neue
Vorschläge vorlegen. «Es wird schwierig, es wird komplex», sagte der

Belgier.

Merkel betonte, Deutschland sei mit der Grundarchitektur des
erwogenen Programms zufrieden. Zugleich machte sie deutlich, dass es
auch aus deutscher Sicht noch Änderungen geben soll. So äußerte sie
Zweifel an der Datenbasis, auf deren Grundlage das Geld an die
EU-Staaten verteilt werden soll. Michel zufolge stellen mehrere
Länder die Verknüpfung mit den Arbeitslosenzahlen der vergangenen
Jahre infrage. Merkel dringt auch darauf, dass schon vor 2028 damit
begonnen wird, aufgenommene Schulden zurückzuzahlen.

Zudem forderte die CDU-Politikerin, in diesem Zusammenhang auch das
europäische Wettbewerbsrecht sowie Genehmigungsverfahren auf den
Prüfstand zu stellen. So soll es zum Beispiel einfacher gemacht
werden werden, in Europa «globale Champions» zu bilden.

Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag der EU-Kommission für einen
schuldenfinanzierten Konjunktur- und Investitionsplan im Umfang von
750 Milliarden Euro. Davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse
an die EU-Staaten fließen, der Rest als Kredite. Die Schulden sollen
bis 2058 gemeinsam aus dem EU-Haushalt abbezahlt werden. Verhandelt
wird der Plan zusammen mit dem nächsten siebenjährigen
EU-Finanzrahmen, für den die Kommission 1,1 Billionen Euro ansetzt.

Doch die Positionen der 27 EU-Staaten liegen weit auseinander. Michel
zufolge sind noch alle Knackpunkte offen: das Gesamtvolumen, das
Verhältnis zwischen Zuschüssen und Krediten, die Kriterien für die
Verteilung des Geldes und die Frage, ob dies enger an den durch
Covid-19 entstandenen Schaden in den jeweiligen EU-Staaten geknüpft
werden sollte. «Nun gehen wir eine andere Phase über: Wir werden
verhandeln», sagte Michel. Er wolle sofort loslegen.

Allzu große Kompromissbereitschaft ließ am Freitag kaum jemand
erkennen. Vor allem die sogenannten sparsamen Vier - Österreich,
Schweden, Dänemark und die Niederlande - haben Bedenken, Geld, das
als Kredit aufgenommen wurde, als Zuschuss zu verteilen.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz bekräftigte diese Haltung
nach den Beratungen. Er sprach vom «Startpunkt für lange
Verhandlungen». Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven sagte, die

Staaten stünden noch recht weit auseinander. Der niederländische
Ministerpräsident Mark Rutte betonte, für eine Einigung beim nächsten

Gipfel im Juli müsse noch viel passieren. «Ich denke nicht, dass die
Welt untergehen wird, wenn wir mehr Zeit brauchen.»

Mehrere Länder drängten jedoch zur Eile. Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte
forderten eine Lösung im Juli. Eine Einigung könnte dann etwas
einfacher sein, weil die Staats- und Regierungschefs sich erstmals
seit Februar wieder persönlich in Brüssel treffen wollen.

«Wir müssen das Abkommen unbedingt bis Ende Juli abschließen», sagt
e
Conte nach Berichten italienischer Nachrichtenagenturen. Die Summe
von 750 Milliarden Euro dürfe keinesfalls unterschritten werden.
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zeigte sich optimistisch,
dass die Verhandlungen im Juli oder August abgeschlossen werden
könnten. Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow war hingegen
enttäuscht, dass noch nichts beschlossen wurde.

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde,
sagte laut Teilnehmern in der Sitzung, je schneller das Programm
komme, desto besser. Sie bekräftigte die Erwartung der EZB, dass die
Wirtschaft der Eurozone dieses Jahr um 8,7 Prozent schrumpfen werde.
EU-Parlamentspräsident David Sassoli betonte: «Zeit ist ein Luxus,
den wir uns nicht leisten können.»

Eine Einigung erzielten die Staats- und Regierungschefs der EU aber
doch: Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland werden angesichts
mangelnder Fortschritte im Friedensprozess für die Ostukraine um ein
halbes Jahr verlängert.