70 Corona-Fälle in Neuköllner Wohnblöcken - Risiko für ganz Berlin?

Erst Ischgl, jetzt eben auch die Neuköllner Mietskasernen: So hat es

der Bezirksbürgermeister umrissen. Das Coronavirus greift nach den
allgemeinen Lockerungen noch einmal um sich. Im Vergleich zu den
vergangenen Monaten gibt es nun aber Besonderheiten.

Berlin (dpa) - Der Corona-Ausbruch in Neuköllner Wohnblöcken mit 70
bestätigten Fällen stellt aus Sicht eines Berliner Amtsarztes eher
kein Risiko für die Allgemeinbevölkerung dar. Trotz Querverbindungen
in andere Bezirke sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein berlinweites
Problem entstehe, «nicht besonders groß», sagte der Leiter des
Gesundheitsamts Reinickendorf, Patrick Larscheid, am Mittwoch im
RBB-Inforadio. Er begründete dies auch mit den Erfahrungen von den
Ausbrüchen in Fleischzerlegebetrieben in anderen Bundesländern: Die
Betroffenen dort hätten so abgeschottet gelebt, dass das Virus nicht
übergeschwappt sei - ähnlich scheine es auch aktuell in Berlin zu
sein. Unter anderem in Reinickendorf gibt es Corona-Fälle, bei denen
Bezüge nach Neukölln vermutet werden.

Unterdessen ist die Zahl der Infizierten in den unter Quarantäne
gestellten Wohnblöcken mit rund 370 Haushalten in Neukölln weiter
gestiegen. Inzwischen seien mit Stand Dienstagabend 70 Fälle bekannt,
sagte Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) bei radioeins. Am Tag
zuvor hatte der Bezirk von 57 Fällen gesprochen. Die Fälle seien auf
die Haushalte verteilt, schilderte Hikel. Die Situation sei nicht
einfach. Auch in der Allgemeinbevölkerung lasse die Disziplin beim
Einhalten der Corona-Regeln nach: «Insofern ist es natürlich in der
jetzigen Situation noch mal schwieriger, Menschen zu verdeutlichen,
dass Corona eben nicht vorbei ist und dass auch das Einhalten von
einer Quarantäne bedeutet, andere Menschen zu schützen.»

Die vom Ausbruch betroffenen Gruppen seien sehr arme und zum großen
Teil auch bildungsferne Menschen, die «uns sehr vertraut sind im
Gesundheitsamt», sagte Amtsarzt Larscheid im Inforadio. Sie seien
schwer zu schützen. Manchen könne man die grundlegenden Dinge im
Infektionsgeschehen nicht klar machen. «Das ist die reale Arbeit in
den Gesundheitsämtern, damit kämpfen wir und dem stehen wir auch ein
bisschen ratlos gegenüber hier und da», sagte Larscheid.

Die neue staatliche Corona-Warn-App, die beim Nachverfolgen der
Kontakte helfen soll, wertete Larscheid in Anbetracht des akuten
Falls als «Spielzeug für die digitale Oberschicht». Bei Gruppen wie
den nun Betroffenen könne man sich davon keine Vorteile erhoffen.
«Wir gehen hin, wir sprechen mit jedem Einzelnen.»

In den Wohnungen leben teils bis zu zehn Menschen auf engem Raum
zusammen. Das Technische Hilfswerk besorgte Lebensmittel und Produkte
des täglichen Bedarfs und versorgt erste Bewohner mit Hilfspaketen,
wie ein Bezirkssprecher sagte. Diese Woche laufen noch zahlreiche
Corona-Tests, so dass mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen
gerechnet wird.

Berlins Regierungschef Michael Müller lobte Neuköllns Vorgehen im
Inforadio: Dort werde «sehr gut vorgegangen». Die Teststrategie habe

sich bewährt, wonach gezielt überall dort getestet wird, wo Kontakte
unvermeidlich sind. Der Ausbruch war nach Infektionen bei
Schulkindern aufgefallen. Angenommen wird ein Zusammenhang mit einer
christlichen Gemeinde, deren Pfarrer an Covid-19 erkrankte. Ob auch
Verbindungen in andere Städte bestehen, sei frühzeitig geprüft
worden, hieß es aus Neukölln. Der Bezirk habe darüber jedoch keine
Erkenntnisse. In Magdeburg waren nach Corona-Fällen Vermutungen über
einen Bezug nach Berlin angestellt worden.

Ein Gymnasium im Bezirk Spandau gab auf der Schulwebseite die
Schließung von Mittwoch bis Freitag bekannt. Grund sei, dass sich
rund 20 Lehrkräfte nach bestätigten Fällen in Quarantäne begeben

müssten. Der geplante Unterricht sei nicht möglich.

Bei vielen Krankheiten ist bekannt, dass ohnehin benachteiligte
Gruppen besonders betroffen sein können. Bei Covid-19 zeigt sich das
etwa bereits deutlich in den USA. Wie eine Untersuchung von
Versichertendaten aus Deutschland zeigte, könnten Arbeitslose ein
höheres Risiko haben, wegen einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus
behandelt werden zu müssen. Bezieher von Arbeitslosengeld II hätten
ein um 84 Prozent höheres Risiko für einen coronabedingten
Klinikaufenthalt, ging aus einer kürzlich vorgestellten Untersuchung
der AOK Rheinland/Hamburg und des Instituts für Medizinische
Soziologie des Universitätsklinikums Düsseldorf hervor.