Norbert Blüm, der kleine Boxer an Kohls Kabinettstisch Von Christoph Driessen, dpa
Norbert Blüm war einer der letzten Repräsentanten der Bonner
Republik. 16 Jahre saß der «Herz-Jesu-Marxist» mit Helmut Kohl am
Kabinettstisch. Dann überwarf er sich mit seinem Förderer und sprach
nur noch im Traum mit ihm. Nun ist Blüm gestorben.
Bonn (dpa) - Norbert Blüm war 16 Jahre Bundesarbeitsminister und ist
doch nur mit einem Satz in Erinnerung geblieben. Noch Jahrzehnte
später wurde ihm dieser eine Ausspruch auf der Straße nachgerufen,
mitunter geradezu entgegengeschleudert, wie der CDU-Politiker einmal
der Deutschen Presse-Agentur schilderte. Mal eher
augenzwinkernd-freundlich, oft aber höhnisch und manchmal sogar in
dem für ihn typischen Dialekt: «Die Rente ist sischer!»
Auch mit über 80 Jahren war Blüm noch jederzeit bereit, diesen Satz
zu verteidigen. «Und zwar mit einer gewissen Wut im Bauch», wie er
der dpa versicherte. Blüm sagte von sich selbst, er wäre ein «alter
Rummel-Boxer», der den Schlagabtausch brauche. Er war ein kleiner,
aber kompakter und beweglicher Mann, der noch im hohen Alter einen
festen Händedruck hatte und einem direkt in die Augen sah. Jetzt ist
er im Alter von 84 Jahren gestorben. Das teilte sein Sohn am Freitag
der Deutschen Presse-Agentur in Bonn mit.
Blüm war der einzige Bundesminister der Kohl-Ära, der gleichzeitig
Mitglied der IG Metall war. Er galt als «Herz-Jesu-Marxist», als
überzeugter Anhänger der katholischen Soziallehre. In seiner Jugend
war der Arbeitersohn aus Hessen Pfadfinder und Messdiener gewesen,
bevor er sich als Werkzeugmacher bei Opel in seiner Geburtsstadt
Rüsselsheim verdingte. Dann machte er Abitur auf dem zweiten
Bildungsweg und studierte in Bonn Philosophie, Germanistik,
Geschichte und Theologie.
Von 1968 bis 1975 war Blüm als Hauptgeschäftsführer der
CDU-Sozialausschüsse tätig. Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde,
berief er den Weggefährten als Arbeits- und Sozialminister in sein
Kabinett. Dort durfte Blüm von nun an 16 Jahre im Maschinenraum des
Sozialstaats ziemlich eigenständig schalten und walten, denn als
Repräsentant des CDU-Arbeitnehmerflügels war er einer der Pfeiler des
Kohlschen Machtsystems. Mit seinem Namen verbunden bleibt die 1995
gegen erhebliche Widerstände eingeführte Pflegeversicherung. 1986
plakatierte er sein späteres Mantra, ursprünglich nicht «Die Rente
ist sicher», sondern «Denn eins ist sicher: Die Rente». Helmut
Schmidt habe das vor ihm übrigens auch schon so gesagt, erwähnte er
hin und wieder.
Sein Verhältnis zu Kohl bekam schon 1989 tiefe Risse, als er
gemeinsam mit Rita Süssmuth und dem ehemaligen Generalsekretär Heiner
Geißler versuchte, den zu diesem Zeitpunkt höchst unpopulären
CDU-Chef zu stürzen. Stattdessen wollten sie dem beliebten
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zur Macht
verhelfen. Der schreckte aber davor zurück, seinen Hut in den Ring zu
werfen. Dann fiel die Mauer, und der bis dato als «Birne» verspottete
Kohl mutierte zum «Kanzler der Einheit».
Der vollständige Bruch kam 1999/2000 im Zuge der CDU-Spendenaffäre,
als Blüm seinen einstigen Förderer mit deutlichen - vielleicht
überdeutlichen - Worten kritisierte. Von da an wechselten die beiden
kein Wort mehr miteinander. Auf Blüm angesprochen, sagte Kohl in
einem Interview: «Der Mann ist mir völlig egal.» Dennoch ging Blüm
2017 zusammen mit Geißler zu Kohls Beerdigung.
Im Ruhestand vollzog er noch einmal einen kräftigen Linksruck. Die
Titel seiner Bücher lauteten zum Beispiel «Ehrliche Arbeit - Ein
Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier» oder
«Aufschrei! Wider die erbarmungslose Geldgesellschaft». In seinen
Haltungen war er nahe bei Geißler, dessen misanthropische
Verbitterung ihm allerdings fremd war. Während Geißler in seinen
letzten Jahren zunehmend vom Glauben abfiel, konnte sich Blüm sein
christliches Fundament erhalten. Die politische Auseinandersetzung
blieb sein Lebenselixier. «Stellen Sie sich vor, ich hätte keinen
Streit mehr», sagte er. «Dann wäre ich schon tot.»
Geißler starb 2017 kurz nach Kohl. Beide erschienen Blüm nach eigenen
Angaben danach aber noch des Öfteren im Traum. Über eine dieser
Begegnungen mit Geißler berichtete er: «Es war schön. Wie in alten
Zeiten. Wir haben uns im Traum unterhalten, als sei nichts passiert.»
Wenn man sich mit Blüm in seinem Gründerzeithaus in der Bonner
Südstadt unterhielt, bekam man unweigerlich den Eindruck: Die Sorgen
der Welt mochten ihn zwar drücken, aber er selbst war zufrieden mit
seinem Leben. Er war ein Familienmensch, der sich im Kreise seiner
drei Kinder und der Enkelkinder am wohlsten fühlte. Seit 1964 war er
mit seiner Frau Marita verheiratet.
Am Ende wurde die Familie noch wichtiger für ihn: Nach einer
Blutvergiftung war er seit 2019 an Armen und Beinen gelähmt und saß
im Rollstuhl. Die Lähmung machte er erst vor einigen Wochen publik.
«Wie ein Dieb in der Nacht brach das Unheil in Gestalt einer
heimtückischen Blutvergiftung in mein Leben ein», diktierte er seiner
Frau für einen Beitrag in der «Zeit». Schon ein kleiner Juckreiz
unter dem Auge könne jetzt für ihn zum Problem werden, weil er sich
nicht mehr kratzen könne.
«Im Horizont des Rollstuhls fällt der Rückblick anders aus als in der
herkömmlichen Panoramasicht», stellte er fest. «Was war wichtig, was
bedeutungslos? Der Standpunkt wechselt mit dem Standort.» Er war
jetzt ganz auf sich selbst zurückgeworfen, ohne den Resonanzboden der
Öffentlichkeit. «Die Krankheit zerstört unsere Allmachtsphantasien
und dämpft unsere versteckten Überheblichkeiten. Alle
Prestige-Vehikel, Orden und Ehrenzeichen verlieren ihre Bedeutung.»
Auch gelähmt hatte Blüm noch Ziele - zum Beispiel, wieder selbst ein
Buch halten zu können, wie seine Frau im März der dpa sagte.
Seinen Lebensmut büßte Blüm auch durch diesen Schicksalsschlag nicht
ein. Eigentlich genieße er einen privilegierten Status, sagte er:
«Ich lebe wie Gott in Frankreich.» Rund um die Uhr werde er bedient,
einmal mehr sei die Familie sein Zufluchtsort.
Sterben wollte er wie sein Vater. Dessen letzter Satz war gewesen:
«Es war alles sehr schön.»
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