Bittere Erinnerungen - «Verschickungskinder» organisieren sich Von Martin Oversohl, dpa

Ihre Eltern schickten sie zur Erholung ins Mittelgebirge, in die
Berge, an den Strand. Doch Zahllose der als Verschickungskinder
bekannt gewordenen Jungen und Mädchen wurden zwischen den 1950er und
1980er Jahren misshandelt.

Berghausen/Stuttgart (dpa) - Eine Postkarte, wie es früher so viele
gegeben hat. Schwarz-weiß, Krakelschrift, ein kleines Kreuzchen mit
Kugelschreiber an einem Fenster, um das eigene Zimmer im Haus zu
markieren. «Ihr Lieben», schrieb Christa Schneider damals an ihre
Eltern, «heute möchte ich Euch zuerst sagen, dass es mir gut geht.»
Eine glatte Lüge, damals, 1958, in dem Ferienheim auf Föhr. Denn die
Neunjährige litt Höllenqualen, als sie unter den strengen Blicken der
Pflegerinnen die Karte nach Hause schrieb. Ihre Hose muss nach ihrem
Durchfall gestunken haben, sie hatte elendes Heimweh, ihr war
schlecht vor Angst.

Ein Schicksal, wie es ungezählte gegeben haben soll in den
Jahrzehnten nach dem Krieg. Als «Verschickungskinder» und später als

«Kurkinder» wurden die Jungen und Mädchen bekannt, die nach 1945 und

bis in die 1980er Jahre hinein von ihren Eltern in guter Absicht in
Kinderkuren vor allem an die Nordsee, in den Harz und in den
Schwarzwald verschickt wurden. Föhr und Norderney, Bad Salzhemmendorf
und Schliersee, Bad Dürrheim, Oberstdorf und Bad Sassendorf. Kurorte
werden damals für viele zu Tatorten, liest man sich durch die
Erinnerungen der Betroffenen in den Internetforen.

Anja Röhl, selbst Betroffene, schätzt die Zahl der verschickten
Kinder über mehrere Jahrzehnte verteilt auf zwischen acht und zwölf
Millionen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Auch bei den misshandelten
Kindern ist die Dunkelziffer groß. Von Schlafentzug ist die Rede in
dem Forum, das Röhl aus der Taufe gehoben hat. Von Schlägen wird
berichtet und von Isolierung, von Demütigungen und Zwangsmahlzeiten,
Schlafentzug und Anstaltskleidung. Strafen schon für normale
Bedürfnisse wie Lachen und Weinen, Heimweh und Gewichtsverlust.

«Flächendeckend werden Vorfälle von körperlicher und psychischer
Gewaltanwendung in allen Details geschildert», sagt die Publizistin
Röhl, die als Fünf- und als Achtjährige verschickt wurde und vor
kurzem eine Initiative gegründet hat. Sie sammelt im Internet
Erinnerungen von Betroffenen und organisiert Treffen mehrerer
Gruppen.

Christa Schneider hat ähnliche Bilder vor Augen, wenn sie an das Heim
auf Föhr denkt, das damals von der Krankenversicherung als «Schloss
am Meer» beworben wurde. «Ich war als Kind schon immer ein
Rippengestell, weil ich so schlecht gegessen hab», erinnert sich die
70-Jährige aus Berghausen bei Karlsruhe. Wegen Bronchitis und Asthma
sei sie an die See «verschickt» worden, dort habe sie wegen der
schlechten Verdauung Abführmittel und von diesen Durchfall bekommen.

Die Strafe war drastisch: Wochenlang habe sie in der verdreckten
Wäsche schlafen müssen, erzählt Schneider. Sie sei gezwungen worden,

erbrochenen Haferschleim zu essen, sie sei isoliert worden und habe
nachts nicht zur Toilette gehen können, weil die «Tanten», wie die
Pflegerinnen genannt wurden, die Sanitärräume abgeschlossen hatten.
Röhl erklärt sich das Verhalten unter anderem mit der oft
nationalsozialistischen Erziehung der Pflegerinnen sowie dem
institutionellen und wirtschaftlichen Druck.

«Wir waren klein, wir mussten gehorchen, wir mussten folgen»,
beschreibt Christa Schneider heute die damalige Wehrlosigkeit. «Und
die Pflegerinnen waren kalt, da haben wir nie eine Emotionalität
verspürt.» Ihr erging es nach den Erniedrigungen so wie zahlreichen
anderen Jungen und Mädchen. «Meine Eltern haben mir befohlen, zu
schweigen. Und ich habe es damals glaube ich so empfunden, dass es
völlig normal ist und ich bestraft wurde, weil ich etwas falsch
gemacht habe.»

Die Erfahrung hat der Mundelsheimer Kinder- und
Jugendlichen-Psychotherapeut Hans Hopf auch gemacht: «Das haben wir
sehr oft überhaupt bei traumatischen Ereignissen, also auch bei
Missbräuchen, dass den Kindern nicht gleich geglaubt wird», sagt er.
«Die Folge ist eine absolute Hilflosigkeit des Kindes. Es hat ja
niemanden mehr, der ihm einigermaßen Sicherheit versprechen kann. Und
wenn mir niemand glaubt, dann verzweifle ich. Oder ich fange an, mir
selber nicht mehr zu glauben.»

Ärzte verschrieben die sechs- bis achtwöchigen Kuren bis in die 80er
Jahre hinein, finanziert wurden sie von den Kranken- und
Rentenkassen. Mehrere Jahrzehnte hat es gedauert, bis die
Verschickungskinder merkten, dass sie nicht alleine sind. In mehreren
Bundesländern haben sie sich inzwischen organisiert, Ende des
vergangenen Jahres trafen sich Dutzende von ihnen auf Sylt und
tauschten sich aus.

Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Baden-Württemberg, das sind die
besonders betroffenen Bundesländer. Und es sind auch die Länder, in
denen nun die Politik reagiert. «Man ist sich einig, dass man
gemeinsam etwas bewegen und die Erlebnisse aufarbeiten will», sagt
Steffen Erb, Regierungsrat im Stuttgarter Sozialministerium, nach
einer Arbeitssitzung mit Vertretern der Verschickungskinder. Das
Landesarchiv Baden-Württemberg ist bereits in Vorleistung getreten
und hat mit dem 2018 ausgelaufenen Projekt zur Erforschung der
Heimkindererziehung Maßstäbe gesetzt.

Bei der Jugend- und Familienministerkonferenz im kommenden Mai wollen
die drei Bundesländer einen Konsens erzielen, um den Bund zu weiteren
Initiativen aufzurufen. «Das ist ein übergreifendes Thema, weil die
Kinder von überall herkamen und überall hingekommen sind», sagt Erb.