Chinesen unter Generalverdacht - Wenn der Nebenplatz frei bleibt Von Christoph Driessen und Petra Kaminsky, dpa

Asiatisch aussehende Menschen in Deutschland stellen in diesen Tagen
fest, dass der Sitz neben ihnen in der Straßenbahn frei bleibt. Das
Coronavirus zeigt Wirkung - auch ohne Ansteckung. Andensorts in
Europa spüren Chinesen teils noch stärker, dass Mitmenschen plötzlich

Angst vor ihnen haben.

Köln/Rom (dpa) - Er ist in Deutschland geboren. Er hat ausschließlich
die deutsche Staatsbürgerschaft. Er spricht akzentfrei Deutsch. Und
dennoch hat er seit seiner Kindheit immer wieder das Gefühl, nicht
richtig dazuzugehören. Weil Yen Souw Tain chinesische Wurzeln hat.

Es begann schon in der Schule. «Schlitzauge» wurde er da genannt -
und dabei zogen sich die anderen dann ihre eigenen Augen in die
Länge. Er kennt das vage Reden über eine «gelbe Gefahr». Er hat imm
er
versucht, das abzuhaken. Jetzt sorgt die Angst vor dem Coronavirus
weltweit verstärkt für negative Emotionen - neue und alte. In
Malaysia etwa fand eine Online-Petition für ein Einreiseverbot für
Chinesen Hunderttausende Unterstützer.

Am vergangenen Freitag, wurde es Yen Souw Tain in Köln jedenfalls
zuviel. «Da hab ich einfach mal meinen Frust rausgelassen», sagt er.
Er postete etwas auf Facebook. «Liebe Kunden und Asia Fans», begann
der 32-Jährige. Damit richtete er sich an diejenigen, die im
Supermarkt seines Vaters in Köln einkaufen. Ein Markt für asiatische
Spezialitäten. Ein Markt, in dem es gerade deutlich ruhiger ist als
sonst.

«Was wir im Moment erlebt haben, ist sehr traurig», schrieb Tain. Er
schilderte folgende Szene: Eine Frau kommt mit ihrer etwa zehn bis
zwölf Jahre alten Tochter in den Supermarkt und fordert sie auf:
«Zieh deinen Schal vors Gesicht!» An der Kasse fragt das Mädchen die

Mutter: «Sind denn alle Chinesen hier krank?» Die Mutter antwortet
nicht. Sie bezahlt schnell und hastet nach draußen.

«Das fand ich schockierend», sagt Tain. «Das Personal stand dabei,
andere Kunden haben es gehört. Und die Mutter hat das so stehen
gelassen.» Für ihn sei das eine Form von «Rassismus, den man nicht
sofort erkennt». Er kann verstehen, dass sich die Mutter Sorgen um
die Gesundheit ihres Kindes macht. Aber er kann nicht verstehen, dass
sie die Frage nicht beantwortet hat. Dass sie nicht gesagt hat:
«Nein, natürlich nicht.»

In Italien, wo viele Menschen mit chinesischen Wurzeln seit
Jahrzehnten zu Hause sind, häufen sich die Vorfälle. Rund 300 000
Chinesen zählen die Statistiker, dazu kommen 5,3 Millionen
Übernachtungen von Chinesen in dem Mittelmeerland. Vergangene Woche
hing vor einer Bar am Trevi-Brunnen in der Hauptstadt Rom ein Schild,
das Chinesen den Eintritt verbot.

Die Zeitung «Il Messaggero» berichtete, dass einige Mitarbeiter der
Müllabfuhr in dem römischen Viertel, in dem besonders viele Chinesen
wohnen, nicht mehr sauber machen wollten - aus Angst vor Ansteckung.
In Rom war Ende Januar bei einem Urlauberpaar aus China das Virus
festgestellt worden.

Im norditalienischen Turin ging die Bürgermeisterin Chiara Appendino
demonstrativ chinesisch essen, wie Medien schrieben. Sie warnte vor
«Rassismus». Zuvor hatte es einen Vorfall in einem Bus gegeben.
Mitreisende sollen eine junge Chinesin, die kein Italienisch sprach,
als «unerwünschte Person» angegangen sein.

In Mailand, wo ein Viertel wegen Asia-Läden, Restaurants und
asiatischen Bewohnern als «Chinatown» gilt, mussten die Eltern an
Schulen extra beruhigt werden. Wie die Nachrichtenagentur Ansa
schrieb, haben rund 160 von 800 Kindern dort chinesische Wurzeln. Und
die Leitung versicherte, dass es keinen Grund zur Besorgnis gäbe.
Unterdessen haben vier norditalienische Regionen in einem Brief an
das Gesundheitsministerium in Rom gebeten, dass alle aus China
zurückkehrenden Kinder zwei Wochen nicht zur Schule gehen sollen.

In Köln hofft Yen Souw Tain unterdessen, dass die Seuche bald
abklingen wird. Damit niemand mehr krank wird, damit niemand mehr
stirbt. Und auch, damit asiatisch aussehende Menschen nicht mehr
gemieden werden. Seine Mutter, erzählt er, saß am Montag in Köln in
einer vollen Straßenbahn - aber der Platz neben ihr blieb frei. Sie
versuchte, es mit Humor zu nehmen: «Ich hatte jetzt endlich mal viel
Platz.»

So geht es auch Menschen in Berlin. In einer vollen Bahn im
Berufsverkehr blieb am Montagmorgen ein einziger Platz frei - der
neben einem asiatisch aussehenden Mann. Auch einige Taxifahrer
erzählen ihren Fahrgästen, dass sie keine Asiaten mehr mitnehmen
wollen. Unter dem Hashtag #JeNeSuisPasUnVirus (auf Deutsch: Ich bin
kein Virus) berichten Menschen asiatischer Herkunft seit einigen
Tagen von ihren Erfahrungen mit Rassismus im Alltag seit dem
Aufkommen des Virus. Von Leuten, die im Restaurant nicht erwünscht
waren, ist dort zum Beispiel die Rede.

«Ich habe zu China ganz, ganz wenig Bezug», sagt Tain aus Köln. «We
nn
man mich nach China schicken würde, wäre ich aufgeschmissen. Weil ich
mich als Deutscher fühle und genauso denke. Und deshalb finde ich es
traurig, dass jemand, der hier seine Heimat hat, trotzdem ausgegrenzt
wird.»