«'Ne doofe Idee» - Berliner Opfer sagt im Stromschlag-Prozess aus Von Britta Schultejans, dpa

Sie steckte einen Nagel in die Steckdose und versetzte sich so einen
heftigen Elektroschock - im Auftrag eines Fremden aus dem Internet.
Vor Gericht in München hat eine Berliner Studentin nun versucht, das
alles zu erklären.

München (dpa) - Es erinnert an ein berühmtes Experiment aus den
1960er Jahren: Ein Fremder gibt lebensbedrohliche Stromschläge in
Auftrag - und die Probanden gehorchen blind. Vor dem Münchner
Landgericht geht es um das Heute. Ein 30-jähriger Mann, der sich als
Arzt ausgab, soll Mädchen und junge Frauen über Jahre per Skype dazu
überredet haben, sich selbst heftige Elektroschocks zuzufügen. Eine
Berliner Studentin erklärt vor Gericht, warum sie dabei mitmachte.

Die 27-Jährige tritt als eine von zwei Nebenklägerinnen in dem
Verfahren auf. Sie wirkt wie eine selbstbewusste, aufgeräumte junge
Frau. «Ich brauchte halt Geld und dafür hätte man halt Geld
bekommen», sagt sie. 3000 Euro soll der Informatik-Kaufmann, der sich
als Wissenschaftler «Raik Haarmann» von der Berliner Charité ausgab,

ihr geboten haben, damit sie sich selbst im Rahmen einer angeblichen
Schmerzstudie Stromschläge zufügte.

Warum hat der Mann das getan? Aus sexuellen Gründen? Wegen eines
Fetischs? Weil es ihn erregt, wenn Frauen Schmerzen leiden? Oder weil
er - wie die Verteidigung es nahe legt - psychisch krank ist und nur
auf sehr seltsame Weise Kontakt zu anderen Menschen suchte? Und warum
machten so viele Mädchen und Frauen, manchmal sogar deren Eltern, bei
den Strom-Versuchen mit und brachten sich damit in Lebensgefahr? 

88 Mordversuche sind vor dem Landgericht München II angeklagt. Die
«Ermittlungsgruppe Strom» der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck kam
sogar auf 120 Opfer, wobei nicht alle Fälle angeklagt wurden. Die
Berliner Doktorandin ist Opfer Nummer 34.

«Das hat einen seriösen Eindruck gemacht», erinnert sich die junge
Biologin. Der angebliche Doktortitel des Mannes habe sie beeindruckt.
«Ich komme ja selbst aus dem wissenschaftlichen Bereich.» Vier Jahre
liegt das alles zurück. Heute versucht sie, das Ganze mit Humor zu
nehmen. Sie habe es nicht so mit Elektronik, sagt sie. «Ich habe
keine Ahnung von Strom.»

Sie sei zwar Biologin, ergänzt sie in einer Verhandlungspause. Sie
habe aber mit Bakterien zu tun und nicht mit Menschen. Dann lacht
sie. Alles sei ihr heute «primär total peinlich». Als der Angeklagte

sich nach ihrer Vernehmung bei ihr entschuldigt und sagt, es sei «ein
moralischer Fehler» und «schlecht» gewesen, was er getan habe, nennt

sie seine Entschuldigung «stark».

Während des angeblichen Experimentes sei sie im November 2015 per
Skype angewiesen worden, ein «Löffel-Holzlöffel-Kabel-Gedöns» zu

bauen, berichtet die Berlinerin. Vor Gericht wird der Video-Chat
gezeigt, den der Angeklagte laut Staatsanwaltschaft aufgezeichnet
haben soll, um ihn sich immer wieder anschauen zu können. Darin ist
zu sehen, wie sie schreit, als sie einen Stromstoß bekommt.

Laut Anklage steckte sie auf Anweisung des angeblichen Mediziners
unter anderem auch einen Nagel in eine Mehrfach-Steckdosenleiste und
klemmte ihn zwischen die Zehen. Als sich der Stromkreis schloss,
bekam sie einen heftigen Schlag. «Es tat echt weh», sagt die Zeugin
vor Gericht. Im Video ist zu sehen, wie die junge Frau wieder
aufsteht - und sich trotzdem einen weiteren Elektroschock versetzt.
«Muss das wirklich nochmal sein?», fragte sie im Chat. «Ja, leider an

beiden Füßen», antwortete der Angeklagte und fragte: «Können Si
e noch
etwas länger aushalten?»

In den 1960er Jahren gab es ein Experiment des US-amerikanischen
Psychologen Stanley Milgram zu absolutem Gehorsam. Dabei wurde
Probanden allerdings nur vorgegaukelt, dass sie anderen Menschen im
Nebenraum Stromstöße zufügen. Der Angeklagte brachte Dutzende Frauen

und Mädchen dazu, sich selbst Stromschläge zu versetzen.

Sie habe sich nach dem Stoß aufgebäumt, sagt die 27 Jahre alte Zeugin
heute. Im Video zu sehen ist das nicht. «Ich konnte nicht mehr
atmen», ergänzt sie. «Ich lag dann da irgendwann auf dem Boden.» Ih
re
Alarmglocken hätten bei der Sache zwar schon leise geschrillt. Aber
sie habe eben Geld gebraucht. Gesehen hat sie die 3000 Euro
allerdings nie. Sie sagt: «Wenn man sich da dann selber 220 Volt
durch den Körper gejagt hat, fällt einem auf, dass das echt 'ne doofe
Idee war.»