«Wir waren so viele»: Massendemonstration in Ost-Berlin vor 30 Jahren Von Jutta Schütz, dpa

So einen machtvollen Protest hat die DDR noch nicht erlebt: Am 4.
November 1989 versammeln sich bis zu eine Million Demonstranten auf
dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Viele Menschen erinnern sich noch
genau an den Tag kurz vor dem Mauerfall.

Berlin (dpa) - Seine Frau blieb an dem Samstag mit den zwei Kindern
zu Hause. «Man wusste ja nicht, wie sich das entwickelt und ob der
Apparat klein beigibt», sagt Michael Masur. Der älteste Sohn des
international bekannten Dirigenten Kurt Masur (gestorben 2015) fuhr
an jenem 4. November 1989 zum Alexanderplatz in Ost-Berlin, wie
Hunderttausende andere auch. Schätzungen sprechen von fast bis zu
einer Million Teilnehmern - es ist die größte Demonstration der
DDR-Geschichte und wohl auch die größte in Deutschland überhaupt,
abgesehen von der Loveparade.

«Wir waren so viele», sagt der 69-Jährige zu dem historischen Tag vor

30 Jahren - wenige Tage vor dem Mauerfall. «Die Menschen standen
dicht an dicht, das war schon beeindruckend.» Es sei seine
Möglichkeit gewesen, «kundzutun, dass man nicht so zufrieden ist»,
erinnert sich der Klavier- und Cembalobaumeister. Er sei in der DDR
nie zur Wahl gegangen, sagt der frühere Ost-Berliner der Deutschen
Presse-Agentur.

Schon seit dem frühen Morgen ist die gesamte Innenstadt in der
Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik mit Demonstranten
gefüllt. Der Verkehr ruht vollständig. Oppositionelle wie Marianne
Birthler, der Schauspieler Jan Josef Liefers, die Schriftstellerin
Christa Wolf sprechen zu den Massen.

Fast 30 Redner treten ans Mikrofon. Es geht um Presse-, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit. Der Machtanspruch der SED wird infrage
gestellt. Der Berliner SED-Chef Günter Schabowski und der ehemalige
Geheimdienstchef Markus Wolf werden lautstark ausgepfiffen. Ihre
Versuche, sich als Reformer zu präsentieren, nehmen ihnen die
Demonstranten nicht ab.

Nicht dabei ist Wolf Biermann, der 1976 aus der DDR ausgebürgerte
Liedermacher. Obwohl von den Organisatoren eingeladen, wird ihm am
Bahnhof Friedrichstraße die Einreise verweigert.

Am selben Tag versammeln sich in Magdeburg 40 000 Bürger. In Suhl
protestieren 20 000 Bürger. Auch in Lauscha, Potsdam, Rostock,
Plauen, Schwerin, Arnstadt, Altenburg und Dresden demonstrieren
Zehntausende für den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen.

In ihrem Buch «Halbes Land Ganzes Land Ganzes Leben» erinnert sich
Birthler, wie sie in der Nacht zuvor an ihrer Rede gearbeitet habe.
Die damals 41-Jährige trat nach Gregor Gysi (der Pfiffe des Publikums
kassierte) mit weichen Knien ans Mikrofon und begann mit den Worten:
«Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben.»

Bei der Demo habe es mutige und witzige Plakate gegeben: «Keine Macht
für niemand», «Rechtssicherheit statt Staatssicherheit» oder
«Fahrräder fürs Politbüro». Beeindruckend sei es gewesen, dass im
mer
mehr Menschen ihre Angst verloren und auf die Straße gingen, so
Birthler, die von 2000 bis 2011 die Stasi-Unterlagen-Behörde leitete.

Die Initiative für den 4. November auf dem Alex ging vom «Neuen
Forum» aus, wie Birthler schreibt. Es sei weder darum gegangen, die
DDR abzuschaffen, noch darum, sie zu retten. «Es ging um ein
besseres, freieres Leben.» Und: «Das Alte galt nicht mehr, und das
Neue war noch nicht da.»

Auch beim damaligen Oppositionellen Tom Sello ist vieles noch
präsent. Der heutige Berliner Beauftragter für die Aufarbeitung der
SED-Diktatur meint, bei der Demonstration habe es viel Kreativität
gegeben. «Das hat gezeigt, dass Revolution auch Spaß machen kann.»

Und es blieb friedlich. So wie in Leipzig. Dort hatte nur ein paar
Wochen zuvor der «Aufruf der Leipziger Sechs» dazu beigetragen, dass
es bei der großen Montagsdemo am 9. Oktober nicht zu Gewalt kam. Kurt
Masur hatte den Aufruf für Besonnenheit mitverfasst - gerichtet an
die Demonstranten und die Staatsmacht. «Ich war durchweg stolz auf
Vati», sagt sein Sohn Michael heute. Mit dem Aufruf habe dieser einen
Teppich für alle ausgelegt, hatte Masur dem «Tagesspiegel» gesagt.

Er wäre damals sehr gern zu der Demo in Leipzig gefahren, habe aber
keine Zeit gehabt. Dann habe er das in Berlin nachgeholt, sagt Masur
der dpa. Zu DDR-Zeiten Leiter der Klavierwerkstatt an der Staatsoper,
übernahm Michael Masur 1991 diese nach der Privatisierung. Er
repariert und stimmt die Instrumente des Hauses bis heute und denkt
noch nicht ans Aufhören. Ein Nachfolger für die Werkstatt in
Berlin-Kaulsdorf sei leider nicht in Sicht, sagt der 69-Jährige.

Nachdenklich reflektiert Masur junior über Vergangenheit und
Gegenwart. «Die DDR möchten wir nicht zurückhaben», nickt er seiner

Frau Evelyn zu. Zwar sei das heutige System in vielen Punkten sehr
gut - so bei der Krankenversicherung - aber insgesamt nicht perfekt.
«Die Schere zwischen Arm und Reich dürfte nicht so riesig sein.»

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