Missbrauchsfall Lügde: Freispruch für 16-Jährigen Von Carsten Linnhoff, dpa
Zahlreiche Kinder sind auf einem Campingplatz in Lügde missbraucht
worden. Aus einem Opfer soll nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ein
Täter geworden sein. Das Landgericht Paderborn sprach den
Jugendlichen frei.
Paderborn (dpa) - Das Landgericht Paderborn hat einen heute
16-Jährigen, der im Missbrauchsfall Lügde vom Opfer zum Täter
geworden sein soll, freigesprochen. Das teilte ein Sprecher am Mittag
mit. Demnach schlossen sich die Richter in ihrem Urteil am Donnerstag
den Ausführungen eines Gutachters an. Der Experte hatte dem
Angeklagten die strafrechtliche Verantwortungsreife abgesprochen.
Laut Jugendgerichtsgesetz (JGG) kann ein Jugendlicher nur verurteilt
werden, wenn seine geistige Entwicklung dies zulässt. Voraussetzung
ist, dass er das Unrecht seiner Taten auch einsieht und danach
handelt. Die Anklage hatte ihm sexuellen Missbrauch mehrer Kinder
vorgeworfen.
Die Staatsanwaltschaft hatte sich nach Angaben des Verteidigers des
16-Jährigen für eine Freiheitsstrafe auf Bewährung unter der Auflage
ausgesprochen, dass der Jugendliche seine Therapie fortsetzt. Dem
sind die Richter nicht gefolgt. Alle Verhandlungstage fanden zum
Schutz des Jugendlichen, der aus Ostwestfalen stammt, unter
Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das galt auch für die
Urteilsverkündung.
Der Anwalt des 16-Jährigen plädierte auf Freispruch. Der Verteidiger
hatte sich bereits zum Prozessauftakt dafür ausgesprochen, dass sein
Mandant eine begonnene Therapie nach einem Urteil fortsetzen kann.
Die Therapie werde noch zwei bis drei Jahren dauern, sagte
Rechtsanwalt Thorsten Fust über seinen Mandanten.
Im Missbrauchsfall Lüdge hatten über Jahre zwei Männer auf einem
Campingplatz an der Grenze zu Niedersachsen zahlreiche Kinder zum
Teil schwer sexuell missbraucht. Das Landgericht Detmold hatte die
beiden im September zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der
16-Jährige, der jetzt freigesprochen wurde, war unter den Opfern.
Laut Staatsanwaltschaft wurde der Jugendliche später selbst zum
Täter. Sein Verteidiger hatte vor dem Landgericht Paderborn die in
der Anklage beschriebenen Taten eingeräumt.
Die 5. Große Strafkammer des Gerichts würdigte in ihrer
Urteilsbegründung laut Mitteilung den besonderen Sachverhalt. Die
Kammer verwies auf die Umstände und das Ausmaß des vorhergehenden
sexuellen Missbrauchs des Angeklagten durch einen der Lügde-Täter.
Das Gericht betonte, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung
handelt, die nicht auf andere Fälle übertragbar sei.
Dass aus Opfern später Täter werden können, bestätigen Experten.
«Das
Phänomen gibt es. Natürlich ist das nicht in allen Fällen so, aber
wir registrieren das bei einem deutlich erhöhten Prozentsatz», sagt
Andreas Schulze von der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik des
Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Marsberg. Der Psychologe
betreut dort Jugendliche.
«Menschen lernen durch Nachmachen dessen, was sie erleben. Ein Mensch
mit Missbrauchserfahrung «lernt» vor allem an dem, was er selbst
erlebt hat. Dies passiert nicht immer bewusst. Gerade dann, wenn der
Missbrauchte massive sexuelle Missbrauchserfahrungen machen musste,
dann sind genau diese Erfahrungen das, was er oder sie kennt!», sagt
Schulze. Er betont, dass er sich zu dem Fall des 16-Jährigen vor dem
Landgericht Paderborn nicht äußern kann und will, weil er den
Angeklagten nicht kennt.
«Den Sexualstraftäter gibt es nicht. Wir müssen immer die
unterschiedlichen Motive herausarbeiten», sagt der Diplom-Psychologe
über seine Arbeit. Generell gelte: «Opfer erfahren ein absolutes
Ohnmachtsgefühl und sind hilflos. Das wollen sie «nie wieder» erleben
und entwickeln als Gegenreaktion ein unglaublich starkes Bedürfnis
nach Kontrolle.» Aus dem Opfer könne dann ein Täter werden.
Aus der Perspektive des Opfers beschreibt Schulze das so: «Ich will
dann selbst der Große sein, will den Kontakt kontrollieren, will mir
vielleicht auch selbst sexuelle Lust verschaffen. Eben so, wie es der
Täter bei mir auch gemacht hat. Das passiert nicht unbedingt
bewusst.»
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