Totentanz im Sportforum: Wolfgang Schmidts Reise in die Vergangenheit Von Ralf Jarkowski und Ulrike John, dpa

Weltrekord, Niederlage, Rebellion, Gefängnis, Ausreise: Diskuswerfer
Wolfgang Schmidt provoziert die Staatsmacht, 1987 darf er endlich
raus aus der DDR. Jahrelang ist nichts von ihm zu sehen und zu hören.
Bis heute. Als freier Mann lebt der Rentner wieder in Berlin.

Berlin (dpa) - Der silbergraue Mercedes 280E wird etwas langsamer,
dann biegt der betagte Benz sanft schunkelnd nach rechts ab, der Mann
am Steuer hat die Wahl: Alle 17 Parkstreifen sind noch frei. Er
bremst, steigt aus, die Tür klappt, er geht ein paar Schritte, schaut
sich um. Alles gut. Ein sonniger Samstag, mittags 11.24 Uhr,
Fritz-Lesch-Straße. Die Szene am Sportforum im Osten Berlins mutet
an, als stünde die Mauer noch - und ein konspiratives Treffen kurz
bevor. Doch diese Zeiten aus grauer Vergangenheit sind längst vorbei,
und Wolfgang Schmidt ist heute ganz entspannt und gut gelaunt.

Über 25 Jahre ist er wie vom Erdboden verschluckt. Nun ist er wieder
da. Die Gegend kennt er gut. «Das war mal mein Zuhause, meine Heimat,
mein Wohnzimmer», sagt der Mann mit dem Allerweltsnamen, früher mal
einer der besten Diskuswerfer der Welt. Noch heute - 41 Jahre nach
seinem Weltrekord - führt ihn der internationale Verband IAAF in der
ewigen Bestenliste als Nummer 14. Robert Harting ist die 20, sein
Olympiasieger-Bruder Christoph wird an Position 55 geführt.

Ein Mann wie ein Baum, Made in East Germany, sogar die Amerikaner
bewundern den Ostberliner, diesen Smith. Fast zwei Meter groß und 115
Kilo schwer - schon Jahre vor seiner legalen Ausreise im November
1987 wird der aufmüpfige Riese vom SC Dynamo Berlin in der DDR zum
Politikum, zum Ärgernis für die Mächtigen im Arbeiter-und-Bauern-
Staat. Ein Fall für Stasi-Chef Erich Mielke. DTSB-Boss Manfred Ewald,
selbstherrlicher Sport-Papst im Osten, tobt. Schmidt wird wegen
fehlender politischer «Linientreue» aus dem Spitzensport verbannt.

Und da steht er nun. Schnell mal ein Foto? Mit dem Sportforum im
Hintergrund, das würde ja passen. «Nee, nee, das will ich nicht!
Nehmt ein altes, von früher, eins vom Wettkampf», fordert der Mann
mit den stoppelkurzen Haaren und dem schicken Poloshirt. Beides in
silbergrau wie der Mercedes.

Die 65 sieht man ihm nun wirklich nicht an. Sein Händedruck ist immer
noch kraftvoll. Rentner Schmidt will weiter, er hebt den muskulösen
Arm und zeigt Richtung Sportanlagen. «Also, hier war früher...»

AUGUST 1982: Schmidt kommt wegen versuchter Republikflucht,
verbotener Westkontakte und Abweichlertum für 15 Monate ins
Gefängnis. Danach folgen vier Jahre quälender Ungewissheit. Er stellt
einen Ausreiseantrag, zieht ihn zurück. Man lässt ihn zappeln.

Schmidt ist ein Riesentalent, groß, kräftig, schnell. In der DDR ist
die Karriere für so ein Juwel vorgezeichnet. Und es läuft ja: 1976 -
Olympia-Silber in Montreal. 1977: Weltcup-Sieger. 1978: Weltrekord in
Ostberlin und Europameister in Prag. Der Weltrekord mit der
Zwei-Kilo-Scheibe - 71,16 Meter am 9. August 1978 im Sportforum -
gehört ihm immerhin 1754 Tage. Bis der UdSSR-Athlet Juri Dumtschew am
29. Mai 1983 genau 70 Zentimeter weiter wirft.

Der schwerste Leichtathlet unter den Staatsamateuren avanciert zu
einem Vorzeigesportler der Deutschen Demokratischen Republik. Schmidt
wird hofiert, schon mit 24 ist er ein Star. Er genießt Privilegien.
Vier Jahrzehnte später schlendert er wie ein Stadtführer durchs
Sportforum in Hohenschönhausen, vor der Wende das Trainings- und
Wettkampfzentrum der Sportler von Dynamo.

Mit seiner Riesenfaust rüttelt er am Tor zum Sportplatz.
Abgeschlossen. «Das ist ja Totentanz hier! Totentanz im Sportforum.
Früher war hier Leben, auch samstags», poltert Schmidt und schüttelt

den Kopf. «Hier ist ja gar nischt los. Jut, da sind zwee, die
rennen», sagt er in seinem unverkennbaren Berliner Dialekt.

NOVEMBER 1987: Der 33 Jahre alte ehemalige Diskus-Weltrekordler darf
legal aus der DDR ausreisen. «Der 2. November 1987 war der
glücklichste Tag in meinem Leben - der Tag, an dem ich ausgereist bin
und frei war», erzählt Schmidt. «Thrown Free» (Freigeworfen) - so
heißt das 1991 erschienene Buch, in dem zwei US-Journalisten sein
Leben beschreiben.

Schmidt wächst im ehemaligen Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg auf, in
der Stahlheimer Straße, am Humannplatz. Er hatte wohl immer einen
Koffer dort. «Mir geht's gut. Ich lebe zur Zeit in Berlin, in
Ostberlin. Wo man seinen Hut hinhängt...», sagt er. Viel mehr
Privates aus der Neuzeit wird er nicht preisgeben. Handy? «Hab' ick
keens.» Adresse? Bleibt geheim. Und was macht der Pensionär
eigentlich so? «Ich wohne in Berlin und führe ein relativ
bescheidenes und privates Leben.» Punkt.

Für den jungen Schmidt beginnt die riskante Reise zum Klassenfeind im
Freundesland, zunächst im Kopf: Als Top-Favorit wird er bei den
olympischen Boykott-Spielen 1980 in Moskau nur Vierter, nicht mal
Bronze bringt er mit - eine Majestätsbeleidigung für die DDR-Oberen.

Schmidt hegt andere Pläne, er will kein «Diplomat im Trainingsanzug»

mehr sein. Und vor allem will er raus - raus aus der DDR. Dollars und
D-Mark sind das Ziel seiner Träume. Kalifornien, der Golden State,
lockt den Mann, der sich «an den Preisgeldern und den Freiräumen des
Westens orientierte», schreibt Volker Kluge im «Lexikon der
DDR-Sportler».

Für die Mächtigen ist der rebellische Kraftprotz ein enfant terrible.
Der Sohn von Verbandstrainer Ernst Schmidt plant seine Flucht in den
Westen, mit einem Hubschrauber. Verrückt, aber typisch Schmidt. Die
Stasi setzt einen Spitzel auf ihn an, einen Geschäftsmann aus dem
Westen. Schmidt merkt nichts. Der Anfang vom Ende einer
Bilderbuch-Karriere: Statt «rüber zu machen» wird er eingelocht.

«Ich habe 15 Monate im Gefängnis gesessen. Die ganze Sportkarriere
wurde mir damit kaputt gemacht. Als ich einen Rechtsanwalt zwecks
Ausreiseantrag sprechen wollte - da hat der Typ von der Stasi mich
ausgelacht und sagte wörtlich: Dann wird es dir eines Tages auch so
gehen wie Lutz Eigendorf», sagt Schmidt.

Die Drohung mit dem Schicksal des Ostberliner Fußballers schockt
selbst den coolen Diskusriesen. Denn natürlich weiß auch Schmidt,
dass der Nationalspieler vom Mielke-Club BFC Dynamo im März 1979
abgehauen ist - und vier Jahre später in seinem Auto stirbt.

Nach einem «Freundschaftsspiel» beim 1. FC Kaiserslautern setzt sich
Eigendorf ab und bittet in der Bundesrepublik um politisches Asyl. Er
spielt als Profi bei den Pfälzern, später in Braunschweig. Am 7. März

1983 verunglückt er in seinem Auto tödlich. Der lange Arm der Stasi?
Ein Unfall? Verblitzt? Bewiesen ist nichts.

OKTOBER 1994: Für den Verrat der Fluchtpläne des DDR-Sportlers
Wolfgang Schmidt an die Stasi verurteilt das Berliner Landgericht
einen Westberliner Stasi-Spitzel zu einer Bewährungsstrafe von 18
Monaten wegen Freiheitsberaubung in einem besonders schweren Fall.
Der 46-Jährige muss außerdem 7200 Mark an Schmidt bezahlen.

Nach einem Kurzaufenthalt bei Verwandten in Hamburg zieht Schmidt
1988 nach Stuttgart, schließt sich den Kickers an - und verliert das
erste Duell mit Rolf Danneberg bei den deutschen Meisterschaften.
Aber 1990, «da habe ich ihn geknackt. Die war'n doch so sauer: Da
kommt einer aus dem Osten an, geknechtet und geknastet - und ist
besser als sie.» Im Jahr des Mauerfalls steigert er den deutschen
Rekord auf 70,92 Meter. «Im Westen war ich dann ein freier Mann, das
war ein schönes Gefühl», erzählt der Rolling-Stones-Fan.

JUNI 1988: Der einzige deutsch-deutsche Länderkampf der
Leichtathleten in Düsseldorf wird zu einer Belastung des gesamten
innerdeutschen Sportverkehrs. Im Mittelpunkt des sportpolitischen
Hickhacks: Wolfgang Schmidt. «Glaswand statt Glasnost» schreibt dpa
über die Veranstaltung. Jürgen Schult - 1988 gewinnt er die letzte
olympische Goldmedaille für die DDR - verweigert seinem Rivalen
Schmidt den Handschlag. Die gesamte Mannschaft ist angewiesen worden,
ihren früheren Mitstreiter zu ignorieren.

Den 9. November 1989 erlebt Schmidt in Stuttgart. Mit einem
ehemaligen Stabhochspringer, aus der DDR geflüchtet, trifft er sich
abends in einem Restaurant am Schlossplatz. «Du, die Mauer ist
offen!», hört er plötzlich. «Watt? Die Mauer offen? Ich konnt's gar

nicht glauben. Nein, geheult habe ich nicht... Aber ich dachte: Na,
ditt is ja ein Ding!» Zu Weihnachten fährt er mit seiner schwedischen
Freundin Pia nach Berlin, sie besuchen seine Eltern.

FEBRUAR 1990: Der Deutsche Verband für Leichtathletik der DDR (DVfL)
beschließt die sofortige Freigabe von Wolfgang Schmidt zu
internationalen Wettkämpfen. Er gewinnt Bronze bei der EM in Split,
auf dem Siegerpodest flüstert er dem neuen Europameister Jürgen
Schult zu: «Es kotzt mich an, die DDR-Hymne noch einmal hören zu
müssen.» Der neue Europameister frotzelt zurück: «So ist das Leben.
»

Spürt er Hass auf die DDR, sein Heimatland? «Nein, gar nicht»,
schwört Schmidt, der 1993 seine Karriere beendet hat. «Eher weiß ich,

was ich der DDR zu verdanken habe.»

JULI 1991: Der Diskusring ist für Schmidt und Schult längst zu klein
geworden, um ihre persönliche Fehde auszutragen. «Das Händeschüttel
n
hat Jürgen inzwischen gelernt, ansonsten gibt es kein Verhältnis»,
sagt Schmidt bei den deutschen Meisterschaften in Hannover. Und
behauptet: «Ich habe die Erfolge abgeräumt, von denen Schult
überzeugt ist, dass sie ihm zustanden.»

Bei einem Meeting in Sindelfingen geben sich die beiden Alphatiere
dann doch noch die Hand. Als «Kommunistenschwein» soll Schmidt seinen
Erzfeind mal betitelt haben. Schmidt wird richtig wütend, als er das
serviert bekommt: «Habe ich doch nie gesagt! Das stimmt doch gar
nicht! Das ist eine Aussage von dem... Alles Lügen. So wird man
zersetzt! Das ist Diffamierung - übelste Sorte. Mit dem alten Scheiß
will ich doch gar nichts mehr zu tun haben!»

Das geht auch Schult so, der Schweriner hat keinen Bock mehr auf die
ollen Kamellen. Er hat längst einen Schlussstrich unter die Affäre
gezogen. Entspannt sitzt der Olympiasieger und Weltrekordler bei
einer Tasse Kaffee am Templiner See in der Nähe von Potsdam. «An der
Geschichte mit dem verweigerten Händedruck beim Länderkampf 1988 in
Düsseldorf habe ich lange Zeit zu knabbern gehabt. Ich nehme es ihm
heute noch übel, dass er mich damals - stellvertretend für die Leute,
an denen er sich eigentlich rächen wollte -, in der Öffentlichkeit so
diffamiert hat», sagt der 59-Jährige der dpa. «Er wusste genau, was
er mir damit antut, denn er kannte das System aus eigenem Erleben.»

In Sindelfingen habe er versucht, eine gewisse Normalität
herzustellen, «indem ich ihn bei Ankunft im Stadion mit Handschlag
begrüßte», sagt Schult. Das sei am selben Abend im Fahrstuhl des
Hotels begraben worden: «Ich musste mir fernab von Kameras und
Mikrofonen wieder Beschimpfungen anhören.» Danach habe er
beschlossen, die vorher bestehende «Nichtbeziehung» wieder
herzustellen. «Und so ist es bis heute noch.»

Der Hamburger Danneberg erinnert sich noch gut an die Zeit, als
Schmidt 1987 in die Hansestadt kommt. «Ich bin sehr offen auf ihn
zugegangen. Wir haben gemeinsam trainiert, Weihnachten gefeiert,
waren shoppen», erzählt der 66-Jährige, 1984 bei den zweiten
Boykott-Spielen in Los Angeles Olympiasieger. «Als er dann nach
Stuttgart zog, da ging es los mit der psychologischen Kriegsführung»,
sagt Danneberg. «Heute haben wir ein Null-Verhältnis.»

JULI 1992: Schmidt verpasst die Olympia-Qualifikation, auch ein Brief
des Leichtathleten an den IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch
hilft ihm nicht weiter. Ein Jahr später beendet er seine Karriere.

In seinem zweiten Leben reist Schmidt oft nach Kalifornien. Als
Sportler, dann als Privatmann, er jobbt an der US-Westküste sogar als
Börsenmakler. Fragt man ehemalige Weggefährten heute nach Wolfgang
Schmidt, schütteln sie ratlos den Kopf: Der muss doch noch irgendwo
in Amerika sein! Nee, nee: Der läuft gerade mitten durch Berlin.

Zu seinen Freunden hält er aber immer Kontakt, auch zu Alwin Wagner.
Der Hesse und der Ossi lernen sich im Herbst 1973 kennen, bei einem
Wettkampf im bulgarischen Warna. «Plötzlich standen wir als
Fahnenträger nebeneinander. Abends haben wir uns dann gleich noch
getroffen und zwei Flaschen Krimsekt geleert», sagt Wagner. Der
frühere Diskuswerfer hält heute Vorträge an Schulen zum Thema Doping.

Auch der Polizeikommissar a.D. aus Melsungen hatte - privat - mit dem
Fall Schmidt zu tun. «Ich war wesentlich daran beteiligt, dass er
1987 ausreisen durfte», berichtet Wagner. «Ich habe an den
Rechtsanwalt Vogel geschrieben. Und die erste Zeit hat Wolfgang bei
mir gewohnt», erinnert sich der 69-Jährige. «Ich habe jedenfalls
nicht den Eindruck, dass Wolfgang immer noch so verbittert ist wie
früher. Man hat ihm ja schließlich die besten Jahre geklaut.»

Schmidts Vater Erich stirbt 2000, mit 80 Jahren, seine Mutter besucht
er oft im Brandenburgischen. Als sein Sohn verhaftet wird, fällt
Schmidt senior in Ungnade. «Erst wurde er degradiert - vom
Verbandstrainer zum Gerätewart. Und als ich ausgereist bin, da hat
man ihm vom DTSB gesagt: So, das geht jetzt nicht mehr. Und dann hat
er auch diesen Job verloren», erzählt Schmidt junior.

Und wie war das eigentlich mit Doping, damals in der DDR? Schmidt
taucht in dem berühmten Enthüllungsbuch («Doping-Dokumente. Von der
Forschung zum Betrug») gar nicht auf. «Ich gehöre glücklicherweise

nicht zum Kreis der Dopingopfer», sagt er selbst. «Mein Vater hielt
seine schützende Hand über mich und wusste sehr gut, welche
Medikamente auf der Dopingliste stehen.»

Bei seinen Kumpels aus Dynamo-Zeiten, Ulf Leischner und Geher Steffen
Müller, ist das an diesem Tag am Sportforum kein Thema. Über den
Weltrekord-Tag muss Leischner aber heute noch schmunzeln: «Die Wette
war damals, dass Wolfgang 20 Meter weiter werfen musste als ich.»
Leischner hat verloren: Seine 50,30 Meter hätte Schmidt im
Schlafanzug geschafft. Schließlich segelt seine Scheibe genau 20,86
Meter weiter. Weltrekord.