Alt und kriminell - Senioren auf der Anklagebank und im Knast Von Jutta Schütz, dpa

Höheres Lebensalter schützt nicht vor Straftaten. In deutschen
Gerichtssälen sitzen jetzt öfter auch Menschen mit 60 plus auf der
Anklagebank.

Berlin (dpa) - In Berlin ersticht ein 78-Jähriger seine Partnerin,
weil sie sich von ihm trennen will. Der frühere Feuerwehrmann muss
für fünf Jahre ins Gefängnis. In einem Pflegeheim in der Hauptstadt
legt ein alter Mann seinem Mitbewohner einen Bademantelgürtel um den
Hals und zieht zu, weil er das ständige Husten nicht mehr erträgt. Er
bekommt viereinhalb Jahre Haft.

Die Alterung der Gesellschaft macht auch vor der Justiz nicht Halt.
Senioren sind bundesweit nicht mehr nur Opfer fieser Abzocke und
Gewalt, sondern landen häufiger selbst auf der Anklagebank. Oft sind
es tragische Fälle - nach einem langen Leben ohne Straftaten, nicht
selten ausgelöst durch Krankheit oder Verzweiflung.

So steht in Münster (Nordrhein-Westfalen) eine 86-Jährige vor
Gericht, weil die Demenzkranke ihren Ehemann mit einem Holzschrubber
erschlagen haben soll. In Rheinland-Pfalz wird ein 83-Jähriger zu
einer Haftstrafe verurteilt: Er erstickte seine Ehefrau mit einer
Plastiktüte - nachdem er sie jahrelang gepflegt und dann keine Kraft
mehr hatte. In Düsseldorf wird ein 91-Jähriger angeklagt, weil er in
seinem Auto beim Abbiegen eine Fußgängerin übersehen und tödlich
verletzt haben soll.

Aber es gibt auch Kriminelle, die einfach in die Jahre gekommen und
schon alte Bekannte der Justiz sind. Strafen wegen Körperverletzung
nehmen ab, heißt es in Ermittlerkreisen. Aber wegen Kindesmissbrauchs
stehen auch Senioren vor Gericht.

In der Hauptstadt sieht Oberstaatsanwalt Ralph Knispel eine klare
Entwicklung: «Wir haben jetzt deutlich mehr Angeklagte, die älter als
60 Jahre sind.» Das hänge mit der demografischen Entwicklung und dem
längeren Leben von Menschen zusammen. Darauf müsse sich die Justiz
einstellen, sagt Knispel der Deutschen Presse-Agentur.

Knispel, auch Vorsitzender der Vereinigung Berliner Staatsanwälte,
hat beobachtet, dass sich ältere Angeklagte im Gericht oft
rechtstreuer und respektvoller als Jüngere verhalten. «Sie sind eher
bereit, die Gepflogenheiten im Gericht zu beachten.»

Im altehrwürdigen Berliner Kriminalgericht ist auch das Gegenteil zu
beobachten. Angeklagte müssen aufgefordert werden, zum Beginn einer
Verhandlung aufzustehen, die Mütze abzusetzen, nicht Kaugummi zu
kauen oder dem Richter nicht ins Wort zu fallen.

Der Staatsanwalt beschreibt noch andere Besonderheiten bei älteren
Straftätern. «Mancher ist nicht mehr in der Lage, ganze Prozesstage
durchzustehen.» Bei Krankheiten werde dann nur stundenweise
verhandelt, dafür müssten aber mehr Termine angesetzt werden. Zudem
sei zu berücksichtigen, wenn ein Angeklagter im höheren Lebensalter
als Ersttäter vor Gericht steht.

Werden Ältere verurteilt, kommen sie wie andere Straftäter in den
Knast. Zum Stichtag 25. April 2018 (neuere Zahlen lagen noch nicht
vor) saßen allein in den Haftanstalten der Hauptstadt 142 verurteilte
Straftäter ab 60 Jahren aufwärts. Davon waren neun älter als 75.
Aktuell ist der älteste Gefangene Jahrgang 1933.

Der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands geht davon aus,
dass die Zahl Gefangener höheren Alters weiter zunimmt. Eine
geriatrische Einzelbetreuung sei aber meist nicht machbar, sagt René
Müller, Vorsitzender der Gewerkschaft Strafvollzug, der Deutschen
Presse-Agentur. «Und uns fehlen nach wie vor etwa 2000 Bedienstete.»

Ein Beispiel: Wenn ein Justizmitarbeiter 30, 40 Leute zur Freistunde
auf den Gefängnishof führt, und alle müssen minutenlang auf einen
alten Mann warten, der nicht mehr richtig laufen kann - dann könne
das schon mal zu Aggressionen führen. Ältere Gefangene seien auch
gefährdet, von Jüngeren schikaniert zu werden.

Müller bringt eine Idee ins Spiel: Bundesweit sollten Zentren für
geriatrische Betreuung als Abteilungen in Gefängnissen eingerichtet
werden. Aber nicht überall, sondern in vier nach geografischer Lage
für ganz Deutschland - Nord, Süd, Ost und West. Über Kooperationen
von Bundesländern könnte geregelt werden, dort geschultes Personal zu
konzentrieren und die Kosten für altersgerechte Umbauten zu teilen.

In Berlin teilt die Justizverwaltung auf Anfrage mit, dass die Zahl
der Inhaftierten in den vergangenen Jahren zurückging, der Anteil
älterer Gefangener aber steigt. Derzeit sitzen knapp 4000 Inhaftierte
in den Gefängnissen der Hauptstadt. Statistisch machten bis 1997
ältere Gefangene ab 60 Jahren ein Prozent der Inhaftierten aus. Bis
2018 stieg der Anteil auf vier Prozent.

Braucht es nun Seniorentreffs hinter Gittern? Das nicht, heißt es in
der Justizverwaltung von Berlins Senator Dirk Behrendt (Grüne). Aber
man hat sich auf das besondere Klientel eingestellt. Im Gefängnis
Tegel können Ältere bei speziellen Sportprogrammen mitmachen. In
Moabit werden Denk- und Logistikspiele mit extragroßen Symbolen fürs
Gedächtnistraining ausgeliehen.

Insgesamt sind in Berlin 21 Hafträume barrierefrei. Zudem stehen
Älteren Yoga, Kunst- und Musikgruppen in den Anstalten offen. Und der
Humanistische Verband berät zu «altersspezifischen Fragen» - etwa zu

Pflegediensten nach der Haftentlassung.

Dass Ältere im Gefängnis sterben, möchte aber niemand. Es werde
versucht, solche Inhaftierten zu begnadigen oder vorzeitig aus der
Haft zu entlassen, sagt ein Sprecher der Justizverwaltung. Auch die
Unterbringung in einem Pflegeheim sei denkbar.