«Frankfurter Schule»: 100 Jahre Soziologie an der Goethe-Uni Von Thomas Maier, dpa

Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Jürgen Habermas: Mit der
Soziologie in Frankfurt sind weltbekannte Namen verbunden. Der erste
Lehrstuhl wurde vor 100 Jahren eingerichtet - der Inhaber wurde
später zum akademischen Lehrer von Ludwig Erhard.

Frankfurt/Main (dpa/lhe) - Am 19. März 1919 meldet die «Frankfurter
Zeitung» Neuigkeiten aus der Goethe-Universität, die erst fünf Jahre

zuvor gegründet worden war. Unter «Frankfurter Angelegenheiten» hei
ßt
es, dass der Privatdozent für Staatswissenschaft, Franz Oppenheimer
aus Berlin, mit Beginn des Sommersemesters zum ordentlichen Professor
für Soziologie und Nationalökonomie berufen wurde.

In der nüchternen Protokollnotiz wird dabei verschwiegen, dass der
zum 1. April eingerichtete Lehrstuhl für Soziologie der erste
überhaupt an einer deutschen Hochschule war. Zu verdanken war dies
der Stiftung des Frankfurter Kaufmanns und Mäzens Karl Kotzenberg. Er
wollte für die neue Professor an der damaligen Reformuniversität
unbedingt Oppenheimer haben. Der Sohn eines jüdischen Predigers hatte
vor seiner wissenschaftlichen Karriere zunächst lange als Arzt
gearbeitet.

Sicherlich hätte sich Kotzenberg nicht träumen lassen, dass die
Frankfurter Soziologie über Jahrzehnte hinweg und trotz des Bruchs im
Nationalsozialismus weit über Deutschland hinaus die Forschungsagenda
bestimmen sollte. Dafür stehen Namen wie Karl Mannheim, Norbert
Elias, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas. Die
«Frankfurter Schule» ist mit ihrer «Kritischen Theorie» weltweit
ein
Begriff - und Habermas gilt als der derzeit bedeutendste Philosoph
Deutschlands.

Ein entscheidender Schritt zum Ausbau der Soziologie in Frankfurt war
1923 die Gründung des Instituts für Sozialforschung. Dieses wurde
wiederum aus dem Privatvermögen des jüdischen Mäzens und Gelehrten
Felix Weil finanziert. Frankfurt hatte damals eine Ausnahmestellung.
In der Handelsstadt mit ihrem liberal gesinnten Großbürgertum, das
großzügig stiftete, konnten sich ganz neue Ideen in der Wissenschaft
etablieren. Andere Hochschule waren dagegen von konservativen
Landesherren abhängig.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 muss an der Uni
Oppenheimers Nachfolger Karl Mannheim gehen, das Institut für
Sozialforschung wird geschlossen. Dessen führenden Köpfe Adorno und
Horkheimer emigrieren in die USA. Nach der Rückkehr begründen sie
1950 das Institut und die Soziologie erneut - mit maßgeblicher
Unterstützung der US-Besatzungsmacht, die an einer «Reeducation» der

Deutschen interessiert war. Dies machen Felicia Herrschaft und Klaus
Lichtblau in ihrer Dokumentation über «Die Soziologie in Frankfurt»

deutlich.

Adorno und Horkheimer erhalten Professuren an der Goethe-Uni und
gehören fortan zu den führenden Intellektuellen im
Nachkriegsdeutschland. Frankfurt sollte dann 1967/68 neben Berlin zum
zentralen Ort der Studentenrebellion werden - das Institut für
Soziologie war ein wichtiger Schauplatz. Adorno und der 1964 als
Nachfolger Horkheimers nach Frankfurt gekommene Habermas werden aber
von den aufmüpfigen Studenten aber oft angefeindet, obwohl sich die
«Kritische Theorie» an die Ideologiekritik von Karl Marx anlehnte.

Generell wurde die «Frankfurter Schule» der Soziologie aber immer von
zwei Linien in friedlicher Koexistenz dominiert. Neben der kritischen
Gesellschaftstheorie gab es den eher an der Volkswirtschaft
orientierten Zweig, für den Oppenheimer und Mannheim stehen.
Oppenheimer selbst gilt als Vordenker der «sozialen Marktwirtschaft».
Deren Begründer nach dem Zweiten Weltkrieg, der damalige
Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard, hatte in
den 1920er Jahren bei Oppenheimer in Frankfurt promoviert.

Heute zählt die Frankfurter Soziologie mit mehr als 20 Professoren
und rund 60 wissenschaftlichen Mitarbeitern immer noch zu den größten
Einrichtungen in Deutschland. Jedes Wintersemester beginnen dort rund
500 Studenten ihr Studium, wie Heike Langholz vom Institut sagt.

Der 100. Geburtstag wird mit einer Reihe von Vorträgen in den
kommenden Monaten gewürdigt. Die eigentliche Festveranstaltung zum
100. Geburtstag findet erst am 12. November mit Jürgen Habermas
statt, der im Juni 90 Jahre alt wird.

Oppenheimer hatte damals seine Frankfurter Professur wegen Krankheit
auch erst im Wintersemester angetreten. Der erste Lehrstuhlinhaber
blieb zehn Jahre an der Universität, bevor er 1929 im Alter von 64
Jahren nach Berlin zurückkehrte. 1938 emigrierte er über Tokio und
Schanghai in die USA. 1943 starb er verarmt in Los Angeles.