Verborgene Gewalt - Übergriffe in der häuslichen Pflege Von Anika von Greve-Dierfeld, dpa

Extreme Fälle wie Mordversuche oder gar Morde an Pflegebedürftigen in
Heimen finden ihren Weg in die Medien. Verborgene Gewalt und
Übergriffe gegen die alten Menschen hingegen oft nicht. Dabei ist es
ein großes Thema - auch im Alltag der häuslichen Pflege.

Karlsruhe (dpa) - Ein Hilfenetzwerk bittet die Polizei um dringenden
Hausbesuch wegen Verdachts auf Misshandlung. Eine Tagespflege erzählt
von handtellergroßen Hämatomen an Hüfte und Gesäß einer
Demenzkranken. Die Polizei berichtet, dass eine pflegebedürftige Frau
von ihrem Ehemann aus dem Auto gezogen und mit der Faust ins Gesicht
geschlagen wurde. Ein Mann ruft die Polizei an, weil er eingesperrt
wurde. Bei all diesen Vorfällen geht es um Gewaltsituationen in der
Pflege. Und zwar zu Hause.

Die Fallbeispiele stammen aus dem Landkreis Tuttlingen nordwestlich
vom Bodensee, wo sich derzeit das nach eigenen Angaben bundesweit
einmalige Projekt «Erwachsenenschutz» dem Umgang mit, wie es
Projektleiter Wolfgang Hauser formuliert, «problematischen
Pflegearrangements» widmet. Und das aus gutem Grund: «Am
Pflegestützpunkt des Landkreises häuften sich die Hinweise auf
Gefährdungssituationen», sagt Hauser, der als Sozialplaner im
Landratsamt arbeitet.

Nachbarn, Polizei, ambulante Pflegedienste, auch Bürgermeister und
sogar Pflegebedürftige selbst hätten immer öfter berichtet: «Da l
äuft
was nicht gut. Da werden Menschen nicht gut versorgt. Da vermüllt
jemand.» Im Landkreis habe man realisiert, dass zwar jeder alte
Mensch möglichst lange zu Hause bleiben will. Aber die Strukturen
dafür sind mangelhaft, fehlen oft ganz.

Das will das Projekt ändern, vom Sozialministerium wird es über drei
Jahre mit 110 000 Euro gefördert. Das besondere
Abhängigkeitsverhältnis der Pflegebedürftigen im Wohnumfeld mit oft
eingeschränkter sozialer Kontrolle bringe die Betroffenen häufig in
ein Dilemma, sagt eine Ministeriumssprecherin. Das Projekt solle eine
«Sorgekultur im Zusammenwirken von Familien, sozialen
Nachbarschaften, Freiwilligen sowie Professionellen» schaffen.

Besonders Menschen mit Demenz sind laut dem Zentrum für Qualität in
der Pflege (ZQP) gefährdet, Opfer von Gewalt in der Pflege zu werden.
Anschreien, demütigen, bevormunden, zu lange auf dem Klo sitzen
lassen, zu lange warten lassen, nicht ernst nehmen - die Gewalt gegen
Pflegebedürftige, ob in einer Einrichtung oder zu Hause, ist
vielfältig, schwer zu fassen und fängt lange vor strafrechtlich
relevanten Übergriffen an.

Dass das Thema viele bewegt, zeige auch das Interesse am ZQP-Portal
www.pflege-gewalt.de, das den Angaben zufolge vor allem von
pflegenden Angehörigen genutzt wird. «Wir haben dort im Jahr 2018
bisher über 50 000 Besucher gehabt», sagt der
ZQP-Vorstandsvorsitzende Ralf Suhr.

Das ZQP hatte schon 2017 eine Studie zur Gewalt in
Pflegeeinrichtungen veröffentlicht und 2018 mit einer Studie zum
Thema Gewalt in der häuslichen Pfege nachgelegt. Demnach haben viele
pflegende Angehörige mit negativen Gefühlen zu kämpfen, fühlen sich

etwa niedergeschlagen (36 Prozent) oder verärgert (29 Prozent).

Fast jeder Dritte (rund 32 Prozent) der gut 1000 Befragten gab an, in
den vergangen sechs Monaten gegen die pflegebedürftige Person
psychisch gewalttätig gewesen zu sein. Von körperlicher Gewalt
berichteten 12 Prozent. «Vieles bleibt im Dunkeln. Keine Statistik
kann das erfassen», sagt Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung
Patientenschutz. Hinzu kommt auch die schnell übersehene, nach
ZQP-Angaben kaum erforschte Aggression Pflegebedürftiger gegen die,
von denen sie gepflegt werden.

Dabei ist die Bereitschaft zu Familienpflege nach Ansicht von
Experten hierzulande einzigartig. «Sogar in Italien wird weniger
gepflegt, von Frankreich ganz zu schweigen», sagt Thomas Klie, der an
der Evangelischen Hochschule in Freiburg lehrt und das Tuttlinger
Projekt begleitet. «Da wird sehr viel geleistet - allerdings auf
Kosten der Pflegeangehörigen.» Auch Klie spricht von einer
nennenswerten Zahl von Haushalten, in denen man es mit
Gewalthandlungen zu tun habe.

Alleine aus Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) habe sich ergeben, dass etwa 15 bis 20
Prozent der zu Hause versorgten Menschen mit Demenz fixiert, sediert
und/oder eingesperrt werden, sagt Klie. Nach Hausers Worten ist oft
die Überlastung von Angehörigen Grund für solche Handlungen. Sie
würden im Stich gelassen und weder beraten noch begleitet. «Man
erkauft sich die Familienpflege durch Weggucken, indem man sich mit
der Lebenssituation der Menschen mit Pflegebedarf nicht in
ausreichender Weise auseinandersetzt», sagt Klie.

Im Landkreis Tuttlingen soll nicht mehr weggeschaut werden. Mit
Arbeitsgemeinschaften, runden Tischen, einer Taskforce und
sogenannten Case-Management-Schulungen will das Pilotprojekt
Strukturen erarbeiten, mit denen Gewaltsituationen schneller erkannt
und verändert werden können. Das Projekt könne in die Breite wirken,

hofft Klie - um eine bisher vernachlässigte Wirklichkeit in den Blick
zu nehmen.