Ständig unter Strom - ADHS bei Erwachsenen oft unentdeckt Von Christina Sticht, dpa

Die häufigste psychische Störung im Kindesalter bleibt bei vielen
Betroffenen auch später bestehen. Wer im Alltag ständig droht, im
Chaos zu versinken, kann Unterstützung finden. Aber helfen nur Pillen
gegen die Zappeligkeit?

Hannover (dpa) - «Seien Sie doch nicht so nervös!», hört Andreas
Schmidt häufig von Gesprächspartnern. «Ich bin nicht nervös, ich bi
n
so», sagt der 61-Jährige dann. Der Elektroniker, der seinen richtigen
Namen nicht öffentlich machen möchte, hat eine
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Seine
Krankheit bringt man eigentlich mit unkonzentrierten, zappeligen
Kindern in Verbindung. Noch bis vor 15 Jahren herrschte die Meinung
vor, dass sich ADHS mit der Pubertät auswächst. Jedoch bleiben mehr
als der Hälfte der Betroffenen auch als Erwachsene chaotisch,
sprunghaft oder impulsiv. Während im Kindesalter vor allem Jungen
wegen ADHS in Therapie sind, gleicht sich das Geschlechterverhältnis
später aus.

Als Kind machte Andreas Schmidt stets drei oder vier Dinge
gleichzeitig. Nachmittags schlug er selten ein Buch auf, dennoch kam
er irgendwie durch Schule und Ausbildung. Dass er ADHS haben könnte,
dämmerte ihm erst, als die Störung bei seinem damals sechsjährigen
Sohn diagnostiziert wurde und er von der starken erblichen Komponente
erfuhr. Grund ist eine fehlerhafte Informationsverarbeitung im
Gehirn, verursacht durch ein Ungleichgewicht von Botenstoffen, die
eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle
zur anderen spielen.

«Ich habe lange Jahre ohne Probleme gelebt», erzählt der
Familienvater aus dem Landkreis Schaumburg während eines Spaziergangs
rund um den Maschsee. Längeres Stillsitzen fällt ihm schwer. Im Alter
von 40 und dann wieder von 60 Jahren stürzte er in eine Depression,
aus den Tiefs konnte er sich nur mit Klinikaufenthalten befreien. Im
Frühjahr gründete er eine Selbsthilfegruppe für Erwachsene mit ADHS,

um aufzuklären und anderen Betroffenen zu helfen.

Experten zufolge haben etwa drei Prozent aller Erwachsenen ADHS, das
sind mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland.
Behandlungsbedürftig sei die Krankheit nur, wenn die Betroffenen
Einschränkungen im Lebensalltag spürten, sagt Michael Rösler, der an

der Universität des Saarlandes in Homburg forscht. Der
Psychiatrieprofessor hat einen Stufenplan zur Behandlung von
Erwachsenen entwickelt. «Sie müssen nicht automatisch Pillen
verschrieben bekommen», betont er. Am Anfang stehe das Wissen um die
Krankheit und ihren Einfluss auf den Lebensrhythmus.

Häufig tritt ADHS in Kombination mit anderen psychischen Krankheiten
auf wie Süchten, Persönlichkeits- oder Angststörungen sowie
Depressionen. Oft fehlt laut Rösler die Fähigkeit, Gefahren richtig
einzuschätzen, damit steigt die Unfallgefahr.

Als Andreas Schmidt vor 20 Jahren die Frage aufwarf, ob er ADHS haben
könnte, wurde er nicht ernstgenommen. «Die Ärzte meinten, jetzt
bildet sich der Patient Krankheiten ein!» Erst im Alter von 60 Jahren
bekam er zunächst probeweise ein Methylphenidat-Medikament
verschrieben. Erst seit 2011 ist der Wirkstoff für Erwachsene
zugelassen. Senioren darf er Rösler zufolge wegen fehlender Studien
aber nicht verschrieben werden.

«Ich habe die Tabletten genommen, mich in meinen Fernsehsessel
gesetzt und zum ersten Mal einen «Tatort» von vorne bis hinten
geschaut», erzählt Schmidt. «Sonst bin ich ungelogen immer mindestens

20 Mal aufgesprungen, um was zu trinken, herumzulaufen oder weil mir
irgendetwas anderes eingefallen ist.» Auch die Unruhe in den Beinen
war weg, die ihm sonst nachts den Schlaf raubte.

Ständig will er die Tabletten aber nicht nehmen. «Ich habe dann
diesen Tunnelblick und schaue gar nicht mehr nach rechts oder links.
Das ist auch langweilig», meint der große, schlanke Mann. In der
Selbsthilfegruppe, die sich einmal im Monat trifft, sind überwiegend
Frauen im Alter von 30 bis über 60 Jahren. «Frauen gestehen sich
psychische Probleme eher ein», glaubt Schmidt. Einige wollen die
Ursachen der ADHS verstehen, andere Strategien für mehr Struktur im
Alltag und ein «Ende der Aufschieberitis» finden.

Schmidts Anliegen ist es, das Selbstwertgefühl aller Teilnehmer zu
stärken. «Viele haben seit der Kindheit vor allem Ablehnung erlebt.»

Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hätten die meisten,
die Mehrheit verstehe sich aber nicht als krank. Der 61-Jährige will
auch die Vorzüge in den Blick rücken: «ADHS-Familien sind nicht nur
Chaos-Familien, sondern auch sehr kreative Familien.»

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