Spaniens gestohlene Kinder: Prozess weckt bei Tausenden Hoffnung Von Emilio Rappold, dpa

Es ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte Spaniens: In
Kliniken des ganzen Landes sollen über Jahrzehnte bis zu 300 000
Babys verschwunden sein. Viele betroffene Mütter und Väter sind tot.
Aber die noch lebenden Opfer schöpfen jetzt neue Hoffnung.

Madrid (dpa) - Fuencisla Gómez hat ihre tragische Geschichte schon
Hunderte Male erzählt, aber immer noch kullern Tränen über ihre
Wangen, und ihre Hände zittern, wenn sie behauptet: «Mein erste
Tochter wurde mir bei der Geburt gestohlen.» Die 72-Jährige ist eines
von mutmaßlich Zehntausenden Opfern des größten Babyraub- und
Kinderhandel-Skandals Spaniens. Nach dem Beginn der Franco-Diktatur
(1939-1975) und noch bis Anfang der 90er Jahre sollen nach
Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen und Historikern bis zu
300 000 Neugeborene in Kliniken des ganzen Landes den leiblichen
Eltern entrissen worden sein. Auf Nimmerwiedersehen.

Fuencisla, ihr Mann Fernando und Dutzende weitere Betroffene und
Sympathisanten versammelten sich am Dienstag und Mittwoch vor dem
Landgericht in Madrid. Der erste Prozess gegen ein mutmaßliches
Mitglied des Babyhändlerrings, der aus Ärzten, Schwestern, Anwälten
und Kirchenangehörigen bestanden haben soll, gibt ihnen neue
Hoffnung. Deshalb demonstrierten und sangen sie unter sengender Sonne
und bei 30 Grad im Schatten stundenlang, hielten unermüdlich Plakate
mit der Aufschrift «Gerechtigkeit!» in die Höhe. «Menschenrechte f
ür
gestohlene Babys», skandierten sie.

Auf der Anklagebank sitzt Eduardo Vela. Der 85-Jährige, der in den
60er und 70er Jahren Chefgynäkologe des Madrider Krankenhauses San
Ramón war, beteuerte vor der zuständigen Richterin seine Unschuld.
Die Staatsanwaltschaft fordert elf Jahre Gefängnis. Bei diesem ersten
Prozess wird nur über einen einzigen Fall verhandelt, der spanischen
Justiz liegen aber nach amtlichen Angaben mehr als 2000 Anzeigen in
verschiedenen Regionen vor.

Klägerin ist in diesem Fall keine betroffene Mutter, sondern eines
der «gestohlenen Kinder» - die heute 49 Jahre alte Inés Madrigal.
Ihre Adoptiv-Mutter habe ihr 2010, als sich die Berichte über den
Skandal in den Medien häuften, «alles gestanden», sagte sie vor
Journalisten. Ein vermittelnder Geistlicher habe damals von einem
«Geschenk des Doktor Vela» gesprochen. Vela soll damals nach den
Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft unter anderem die
Geburtsurkunde der Klägerin und weitere Papiere gefälscht haben.

«Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern», lautete die Antwort
des Angeklagten vor Gericht fast immer. Dafür erinnert sich Fuencisla
nach eigener Darstellung sehr gut an den Arzt. Am 23. Juli 1971 wurde
sie ins San Ramón eingeliefert, um ihr erstes Kind zur Welt zu
bringen. Sie verbrachte sogar die erste Nacht mit ihrer kleinen
Tochter im Klinikbett. Am nächsten Tag sagte man ihr, das Kind sei
gestorben. «Meine Tochter war total gesund. Aber was blieb uns
anderes übrig, als den Ärzten zu glauben?» Sie habe das tote Kind
sehen wollen, am Ende aber auf Anraten von Vela verzichtet.

Was damals vor sich ging, blieb jahrzehntelang im Dunkeln. Als Anfang
der 2000er Jahre die ersten Berichte über den Skandal ganz Spanien
erschütterten und irgendwann einmal auch die Namen von Vela und der
ebenfalls angeklagten, inzwischen aber verstorbenen «Schwester María»

fielen, «da fuhr mir und meinem Mann Fernando ein kalter Schauer über
den ganzen Körper», erzählt Fuencisla.

Die kleingewachsene Frau - die danach zwei weitere Kinder zur Welt
brachte - und ihre Mitstreiterin María Luisa Hernández, sagen der
Deutschen Presse-Agentur fast unisono: «Die Schuldigen müssen zur
Rechenschaft gezogen werden, aber Rache ist für uns nicht das
Wichtigste. Wir haben in erster Linie ein Recht auf die Wahrheit.»
Beide Frauen und auch ihre Ehemänner sagen, dass sie die Hoffnung
nicht verloren haben, ihre Kinder irgendwann zu finden.

Der 74-jährigen María Luisa, die 1970 im San Ramón einen Sohn zur
Welt brachte, wurde damals erzählt, ihr Kind sei aufgrund einer
Frühgeburt gestorben. «Dabei war ich im neunten Monat schwanger!» Sie

und Ehemann Segundo glauben, dass ihr Sohn heute in Pamplona lebt.
Ein DNA-Test sei schon durchgeführt worden, aber die Bürokratie
verzögere alles. «Noch konnten wir ihn nicht sehen. Noch wissen wir
nicht mit Sicherheit, ob er es ist», sagt Segundo.

Eltern suchen ihre Kinder, Kinder ihre leiblichen Eltern. Doch die
Suche gestaltet sich schwierig. Alte Dokumente sind kaum
aufzutreiben, die Politik zeigt mangelnden Willen, die Kirche weigert
sich, Auskunft zu geben. Einige wenige Betroffene hatten bei ihrer
Suche Erfolg, wollten aber nicht vor die Öffentlichkeit.

Opfer des organisierten Babyraubs waren in den ersten Jahren fast nur
Regimegegner. Nonnen und Ärzte entführten aus ideologischen Gründen.

Die Kinder nicht linientreuer Eltern sollten nach den Vorstellungen
des «Generalísimo» Francisco Franco erzogen werden. Der Skandal
inspirierte den österreichischen Komponisten Christian Kolonovits
2014 für die Oper «Der Richter - Die verlorenen Kinder».

Irgendwann war das Geld wichtiger als die Ideologie. Das Geschäft war
so lukrativ, dass es auch im modernen Spanien noch knapp 20 Jahre
nach dem Tod Francos weiterlief. «Schon Ende der 1960er Jahre wurden
eine Million Pesetas für ein Baby gezahlt», weiß Madrigal, die als
erste in dieser Affäre Anzeige erstattete. Nach heutigem
Umrechnungskurs wären das gut 6000 Euro, damals war der Wert viel
höher. Den Eltern wurde den Berichten zufolge stets erzählt, die
Säuglinge seien tot zur Welt gekommen oder nach der Geburt gestorben.

Vela soll sehr vermögend sein. Die Staatsanwaltschaft fordert von ihm
auch Geldstrafen und Entschädigungen. «Uns geht es aber nicht ums
Geld. Gier nach Geld hat diesen Skandal mitverursacht. Wir wollen die
Wahrheit», sagt auch Madrigal. Die Justiz sei langsam, «weil
vermutlich auch bekannte Personen als Empfänger der Babys verwickelt
sind», glaubt sie. Madrigal sucht ihre biologischen Eltern. Sie
vermutet ihre «echte» Familie im andalusischen Coria del Río und
wartet auf Ergebnisse von DNA-Tests. «Ich glaube, ich habe da fünf
Geschwister. Ein Traum würde für mich wahr werden.»

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