Diskussion um das Brustkrebs-Screening - «Medizin kann mehr» Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Brustkrebs ist ein Frauen-Killer. 17 000 Tote gibt es allein in
Deutschland jedes Jahr. Seit fast zehn Jahren läuft zur besseren
Früherkennung das Mammographie-Screening-Programm. Es zeigt Erfolge,
sagen viele Experten. Aber geht da noch mehr?

Berlin (dpa) - Manchmal kriecht die Erinnerung hoch. Ein Arztzimmer,
ein Schreibtisch, zwei Stühle. Sterile Atmosphäre. Auf dem Tisch
liegt ein bedruckter Zettel, es ist der Überweisungsschein fürs
Krankenhaus. «Lässt sich das nicht besser noch ein bisschen
beobachten?», fragt Andrea Idstein*. «Sie haben Brustkrebs, da
brauchen Sie nicht drumrumzureden», lautet die schroffe Antwort des
Mediziners. Es fühlt sich an wie ein Faustschlag.

Bis heute ist sich Andrea Idstein nicht sicher, ob die schnelle
Operation und die Strahlentherapie bei ihrer Vorstufe von Brustkrebs
wirklich nötig waren. «Da bleibt ein Zwiespalt», sagt die 59-jährig
e
Berlinerin. Doch die Gewissheit, mit dem
Mammographie-Screening-Programm vor sechs Jahren auf Nummer sicher
gegangen zu sein, überwiege.

«Mammo-Programm» sagen viele. Das klingt nicht so nach Zungenbrecher.
Die Abkürzung steht für eine Röntgenuntersuchung der Brust, ein
kostenloses Krebsfrüherkennungs-Angebot für gesetzlich versicherte
Frauen zwischen 50 und 69 Jahren in Deutschland. Das sind zehn
Millionen Menschen. Seit 2009 lässt sich das Gesundheitssystem das
Angebot bundesweit mehr als 200 Millionen Euro im Jahr kosten,
zuletzt waren es 228 Millionen.

Für Kritiker bleiben Fragen: Ist das Screening, so wie es ist, auch
in Zukunft sinnvoll? Könnten andere oder ergänzende Methoden
effektiver sein - bei weniger Strahlenbelastung? Bliebe das
bezahlbar? Und könnten jetzt schon Weichen in Richtung
personalisierte Medizin gestellt werden? Mit einer passgenaueren
Untersuchung je nach Risikofaktor auch für jüngere Frauen statt der
bisherigen Suche nach der Nadel im Heuhaufen bei den Älteren?

Christiane Kuhl, Direktorin der Radiologischen Klinik an der
Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, ist eine
international ausgewiesene Expertin für die Diagnostik von
Brustkrebs. Zur heutigen Früherkennung hat die Professorin eine
dezidierte Meinung. «Das deutsche Screening-Programm ist eine Antwort
auf die Herausforderung Brustkrebs, die vor 30 bis 40 Jahren
angemessen war», sagt sie. «Heute können wir aber sowohl das
individuelle Risiko besser einschätzen als auch daran angepasste
Untersuchungsmethoden wählen.» Stimmt das?

Andrea Idstein hat die Info-Broschüren der Kooperationsgemeinschaft
Mammographie nur überflogen. Von der Diskussion um Methoden wusste
sie damals nichts. Ein Routine-Check. Das klang sinnvoll, warum
nicht. Rund die Hälfte der angeschriebenen Frauen in Deutschland
reagiert so. Das ist nicht wenig für eine Früherkennungsuntersuchung
für gesunde Menschen. Wünschenswert, um Effekte statistisch messen zu
können, wären allerdings 70 Prozent. Ohnehin lässt sich vor 2022 das

große Ziel - die Senkung der Todesfallzahlen durch das Screening -
noch nicht sauber nachweisen. Das liegt vor allem am Langzeit-Effekt
bei Krebserkrankungen.

Nach ihrer ersten Mammografie bekam Andrea Idstein Post: eine
Einladung zu weiterer Abklärung, weil das Röntgenbild Auffälligkeiten

zeigte. Um endgültig Gewissheit über Brustkrebs oder Vorstufen zu
bekommen, entnahmen Ärzte ihr mit einer kleinen Nadel eine
Gewebeprobe aus der Brust. Diese Phase und das Warten auf ein
Ergebnis ist für viele Frauen die schwerste. «Man steht quasi neben
sich», sagt Idstein. «Das kann nur jemand nachfühlen, der das selbst

erlebt hat.»

Die Angst kommt nicht von ungefähr. Brustkrebs ist die Krebsart, die
Frauen in Deutschland mit Abstand am häufigsten trifft. Rund 69 000
Neuerkrankungen gibt es im Jahr und 17 000 Todesfälle - als würde
eine ganze Kleinstadt ausradiert.

Das deutsche Screening ist ein Nachzügler. Schweden startete in den
1980er Jahren, die Niederlande 1990. Heute haben fast alle EU-Länder
Mammo-Programme. In der Bundesrepublik gilt die Reihenuntersuchung
als Fortschritt. Denn in vielen Gegenden gab es vorher keine
geregelten und kontrollierten Früherkennungsangebote. Wenn sich ein
Tumor bereits ertasten ließ, war das oft kein gutes Zeichen. Er war
dann manchmal schon so groß, dass er gestreut hatte - das senkt die
Überlebenschancen.

Bisher klingt das Mammo-Programm nach Erfolgsgeschichte.
«Bemerkenswert ist jetzt schon, dass die großen Brustkrebs-Karzinome
in der Gesamtbevölkerung abnehmen», sagt Frauenärztin Karin Bock,
Leiterin des Referenzzentrums Mammographie Süd West in Marburg. «Das
ist wirklich gigantisch.» Es gebe weniger große Tumoren, weil die
kleinen früher entdeckt würden. «Und wir können das jetzt schon
beweisen.» Je weniger große Tumore, desto weniger Todesfälle durch
Brustkrebs - das ist die Logik der Kooperationsgemeinschaft
Mammographie.

Diese Argumentation ist für Forscherin Christiane Kuhl
nachvollziehbar. Dennoch findet sie, dass es an der Zeit ist, das
Programm zu verbessern. «Anders als vor 40 Jahren wissen wir heute,
dass es sehr viele unterschiedliche Formen von Brustkrebs gibt.» Sie
unterschieden sich sehr hinsichtlich der Bedrohung für die betroffene
Frau und damit die Behandlungsbedürftigkeit.

«Das Ziel von Früherkennung muss heute also sein, effektiv genau
solche Karzinome möglichst früh zu entdecken, die wirklich das
Potenzial haben, die Lebenszeit einer Frau zu verkürzen», sagt sie.
Auffälligkeiten, die ohne Behandlung keinen Schaden anrichten würden,
sollten hingegen undiagnostiziert bleiben. Kuhls Standpunkt: Für
diese Zwecke ist die Magnetresonanztomographie, kurz MRT, der bislang
allein empfohlenen Röntgen-Mammographie überlegen, und das ganz ohne
Strahlenbelastung.

Kuhl zweifelt daran, dass sie hierzulande mit ihrem Konzept eines
Drei-Minuten-MRTs für eine Verbesserung der Brustkrebs-Früherkennung
Anerkennung findet. Obwohl sie die Effektivität der Methode weltweit
durch andere Forschergruppen belegt sieht. «Wir haben in Deutschland
das sehr spezielle Problem, dass die Universitäten von der Teilnahme
am Mammographie-Screening-Programm weitgehend ausgeschlossen sind»,
erklärt sie. «Also ausgerechnet diejenigen, die Wissenschaft
vorantreiben sollen.»

Es sei bei der Form, mit der das Screening-Programm im deutschen
Gesundheitssystem verankert sei, nicht einfach, mit Vorschlägen Gehör
zu finden. «Denn alle, die heute mit Brustkrebs-Patientinnen betraut
sind, sind letztlich abhängig von Zuweisungen aus diesem Programm.»
Mit Erfahrungen aus Drei-Minuten-MRTs anderer Staaten kann Kuhl zudem
noch nicht aufwarten. Große Untersuchungen dazu laufen noch oder
beginnen gerade erst. Ende des Jahres werden Ergebnisse einer großen
Studie erwartet, die in den USA koordiniert wird.

Welche Art von Tumoren findet man mit welcher Methode? Und wie hoch
ist dabei jeweils die Gefahr von Über- oder Unterdiagnosen? Die
Ansichten darüber gehen in den Fachgesellschaften weit auseinander.
Die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (Degum) zum
Beispiel ist der Meinung, dass Ultraschall das Mammografie-Screening
ergänzen sollte. Damit könnten bis zu 45 Prozent mehr wuchernde
Karzinome erkannt werden, heißt es dort.

Oliver Heidinger ist Geschäftsführer des Krebsregisters in
Nordrhein-Westfalen und selbst Mediziner. «Es geht nicht darum, immer
mehr Auffälligkeiten zu finden. Es geht darum, dass es weniger
Brustkrebstote gibt», betont er. «Das Mehr an Diagnosen ist da nicht
automatisch ein Benefit. Am Ende machen wir damit nur immer mehr
Menschen zu Krebspatienten.»

Das Krebsregister habe nichts mit dem Mammo-Programm zu tun, so
Heidinger. «Wir haben eine neutrale Sicht da drauf.» Nach seiner
Einschätzung ist das laufende Programm auf keinen Fall ein Fehler.
«Wir produzieren hier ein lernendes System. Das hatten wir vorher
nicht», urteilt er.

Das Krebsregister checkt einen heiklen Punkt, an dem sich jedes
Mammo-Programm messen lassen muss: Es geht um die Zahl der Tumoren,
die zwischen den routinemäßigen Checks entdeckt werden. Bei Frauen,
die sich in Sicherheit wiegen und dann oft entsetzt die Welt nicht
mehr verstehen: Sie waren doch bei der Früherkennung. War die
Röntgentechnik nicht in der Lage, die Karzinome abzubilden? Haben
Ärzte sie übersehen, obwohl beim deutschen Screening jedes Mal zwei
Mediziner die Aufnahmen auswerten? Oder sind die Karzinome erst nach
der Untersuchung blitzschnell entstanden?

Heidingers bisherige Ergebnisse sprechen aus seiner Sicht für das
Mammo-Programm. «Wir sehen eine leichte Abnahme bei der Zahl der
Karzinome, die zwischen zwei Screening-Untersuchungen entstehen»,
berichtet er. Bei Frauen, die regelmäßig zum Check gingen, fänden
Radiologen insbesondere aggressive Tumore. In der Gesamtbevölkerung
der Stadt Münster hätten zum Beispiel seit dem Start des Programms
die fortgeschrittenen Tumorstadien abgenommen, obwohl nur die Hälfte
der Frauen zwischen 50 und 69 am Screening teilnahm.

Doch auch Heidinger sieht Fragen: zum Beispiel, ob wirklich jeder
Brustkrebstumor im Frühstadium sofort operiert werden muss. «Noch ist
das in Deutschland so.» Für ihn ist es eine ethische Frage. «Bei
wenig bösartigen Tumoren in der Prostata gilt heute schon: wait and
see», sagt er. «Denn nach einer OP wird ein Mann vielleicht viele
Jahre inkontinent, obwohl der Tumor nie Unheil angerichtet hätte. Ein
Desaster.»

Annette Kruse-Keirath steht der Patientenorganisation Allianz gegen
Brustkrebs vor. «Wenn ich den Befund bekomme, dass mammographisch
alles in Ordnung ist, heißt das nicht, dass ich eine gesunde Brust
habe», gibt sie zu bedenken. Eine Mammografie erkenne nicht alles.
«Das ist weder ein Fehler des Untersuchenden noch der Technik. Das
ist ein methodenbedingtes Defizit.» Und so kann es für sie nicht
weitergehen.

«Das Screening ist Mindeststandard, aber sicher nicht der
Goldstandard», ergänzt sie. «Medizin kann mehr. Und Frauen sollten
wissen, dass Medizin mehr kann.» Frauen mit einem dichten Brustgewebe
brauchen ihrer Meinung nach keine Röntgenuntersuchung, weil man
darauf ohnehin wenig sehe. Sie benötigten direkt einen Ultraschall
oder ein MRT. «Wir brauchen einfach unterschiedliche Methoden der
Früherkennung», fordert sie. Dafür sei eine individuelle Fachberatung

der Frauen nötig.

Wünschenswert wäre eine solche Beratung Kruse-Keirath zufolge für
alle Frauen ab 30 Jahren. Und darauf aufbauend die passende
Früherkennungs-Methode - Röntgen, Ultraschall, MRT oder auch eine
Kombination davon. «Das wäre teurer. Aber es wäre nicht unbezahlbar
»,
sagt sie. «Für jede Frau ab 30 wären das 150 bis 200 Euro alle zwei
Jahre. Im Gesundheitswesen ist das pillepalle.» Das Screening für die
50- bis 69-Jährigen - ein Alter, in dem das Brustkrebsrisiko
statistisch gesehen am höchsten liegt - koste bisher rund 50 bis 60
Euro pro Frau.

Auch die Radiologin Kuhl will beim Screening nicht komplett auf MRT
umschwenken. «Zunächst gilt es, das individuelle Risiko einer Frau
mit den heute verfügbaren Mitteln möglichst genau zu ermitteln», sagt

sie. Es gebe Frauen, deren Brustkrebs-Risiko so niedrig ist, dass
regelmäßige Früherkennungs-Untersuchungen wahrscheinlich unnötig
sind. Dann gebe es solche, bei denen die Mammographie ausreiche.

Aber es gebe eben auch Frauen, die von Anfang an eine andere oder
intensivere Früherkennung benötigen. «Weil sie zum Beispiel dichtes
Drüsengewebe haben oder weil Familienangehörige bereits an Brustkrebs
erkrankt sind. Oder weil Gewebeveränderungen festgestellt wurden, die
ein erhöhtes Erkrankungsrisiko bedeuten.» Für Kuhl wäre das
personalisierte Medizin. «Das Mammographie-Screening-Programm, das
alle Frauen über einen Kamm schert, ist das Gegenteil davon.»

Karin Bock vom Mammo-Programms in Marburg hingegen ist überzeugt vom
derzeitigen System. Neuerungen lehnt sie nicht ab, bleibt aber
vorsichtig. «Zehn Millionen Frauen sollten kein Versuchsfeld sein»,
sagt sie. «Nachweise über die Wirksamkeit einer Methode seien wichtig
- und valide Studien zur Massentauglichkeit von Ultraschall und MRT
für die Brustkrebs-Früherkennung gebe es in Deutschland nun einmal
nicht.

Radiologin Kuhl kann das nicht nachvollziehen. Für sie lautet die
Frage, welche Beweislage man fordert, ehe das Mammo-Programm sinnvoll
ergänzt oder modifiziert wird. Es sei kaum vertretbar, noch einmal 40
Jahre zu warten, bis verbesserte Früherkennungsmethoden Standard
werden.

Am Berliner Robert Koch-Institut (RKI) sieht Klaus Kraywinkel im
Zentrum für Krebsregisterdaten die Sache pragmatisch. «Das
Zwischenziel beim Screening heißt, dass die Rate der
fortgeschrittenen Tumore zurückgeht», sagt er. «Sonst kann man
Todesfälle nicht verhindern.» In Deutschland sei diese Rate wenige
Jahre nach Einführung des Screenings bereits gesunken. «Das ist ein
Hinweis auf einen positiven Effekt, auch auf die Sterblichkeit.»

Es könnte aber einen Haken geben: Die Sterberaten für Brustkrebs
gingen schon seit einer Weile zurück, ergänzt Kraywinkel. «Das dürf
te
auch an Fortschritten in der Behandlung liegen.» Den genauen Einfluss
des Screenings auf die Sterblichkeit müssen für Deutschland noch
Studien klären.

Wie geht es nun weiter? Die Entwicklung bei der Krebsfrüherkennung
gehe grundsätzlich womöglich in Richtung eines risikoadaptierten
Screenings, sagt Kraywinkel. Ein erstes Beispiel dafür sei das neue
Gebärmutterhalskrebs-Screening: Künftig werde ab 35 Jahren erst auf
bestimmte Viren getestet, dann je nach Ergebnis unterschiedlich
weiter verfahren.

«Auch bei der Brustkrebs-Früherkennung sollte eine kontinuierliche
Weiterentwicklung und Verbesserung angestrebt werden», betont
Kraywinkel. Allerdings solle vor Einführung einer neuen Methode wie
einer zusätzlichen Ultraschall-Untersuchung nachgewiesen sein, dass
sie am Ende für Frauen bessere Ergebnisse bringt. Und dieser Nachweis
sei nicht einfach. «Da reicht es nicht unbedingt, zu zeigen, dass
eine neue Methode bei einzelnen Gruppen von Frauen mehr Tumoren
entdeckt als die etablierte», erklärt der RKI-Experte.

Eine Möglichkeit bestünde darin, in verschiedenen Regionen
Deutschlands unterschiedliche Programme im Rahmen einer
kontrollierten Studie zu vergleichen. «Das ist natürlich sehr
aufwendig und auch in der Öffentlichkeit nicht einfach zu
vermitteln», so Kraywinkel. Doch auf genau solchen Studien, die seit
Ende der 1970er Jahre vor allem in Skandinavien und Großbritannien
gemacht wurden, beruhe letztlich die Entscheidung für das laufende
Screening-Programm in Deutschland.