Wie James-Bond-Thriller: 100 Tage nach Anschlag auf Sergej Skripal Von Christoph Meyer, dpa

Mit dem Giftanschlag auf den russischen Ex-Doppelagent Sergej Skripal
und dessen Tochter in Südengland erreicht das Verhältnis zwischen
London und Moskau einen neuen Tiefpunkt. Und heute? 100 Tage später?

London/Salisbury (dpa) - Noch immer sind Teile der beschaulichen
südenglischen Stadt Salisbury mit ihrer berühmten Kathedrale
abgesperrt. Dabei liegt der Giftanschlag auf die Skripals bereits 100
Tage zurück. Am 4. März waren dort der 66 Jahre alte russische
Ex-Doppelagent Segej Skripal und seine 33-jährige Tochter Julia
bewusstlos auf einer Parkbank entdeckt worden. Sie wurden mit dem in
der Sowjetunion entwickelten Kampfstoff Nowitschok vergiftet, wie die
Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) später
bestätigt. Es dauert Wochen, bis sie wieder zu sich kommen.

Der Fall weckt Erinnerungen an den Mord an dem ehemaligen Agenten und
Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko, der 2006 in einem Hotel in
London mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde. Die Spur führte
damals nach Moskau. Sollte auch dieses Mal der Kreml verantwortlich
sein? Die Regierung in London legt sich bald fest. Nur Moskau verfüge
über die Mittel und ein Motiv für die Tat, so die Logik.

Der Fall Skripal wird rasch zur internationalen Krise. Auch ohne
Präsentation von Beweisen weisen Großbritannien, die USA und
verbündete Staaten mehr als 140 russische Diplomaten aus, auch
Deutschland beteiligt sich. Russland reagiert mit der Ausweisung
ähnlich vieler Diplomaten. Der Kreml streitet die Vorwürfe von Anfang
an vehement ab. Auch andere Länder verfügten über die Fähigkeit, de
n
Kampfstoff herzustellen, so Moskau. Das Verhältnis zwischen
Großbritannien und Russland sinkt auf einen neuen Tiefpunkt.

Die britische Regierung steht unter Druck durchzugreifen. 14 weitere
mysteriöse Todesfälle mit Russlandbezug sollen erneut untersucht
werden. Forderungen nach Sanktionen gegen russische Oligarchen werden
laut. Ob die Schwierigkeiten des russischen Milliardärs Roman
Abramowitsch, sein Visum für Großbritannien zu verlängern, damit
zusammenhängen, bleibt aber unklar.

Noch immer ist unbekannt, wie genau das Attentat ausgeführt wurde.
Die höchste Konzentration des Gifts wurde an der Türklinke am Haus
des Ex-Spions gefunden. Eine offenbar winzige Menge hatte
ausgereicht, um nicht nur die Skripals, sondern auch einen Polizisten
zu vergiften, der an dem Rettungseinsatz beteiligt war. Sie sind alle
inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der Prozess der
Dekontamination könnte aber noch Monate dauern, sagt eine Sprecherin
des britischen Umweltministeriums der Deutschen Presse-Agentur.

Auch die Ermittlungen sind mehr als drei Monate nach dem Anschlag
noch nicht abgeschlossen, wie Scotland Yard mitteilt. Es handle sich
um einen der größten und komplexesten Fälle, mit denen die britischen

Anti-Terror-Einheiten je zu tun gehabt hätten. Ein Medienbericht,
wonach die Polizei Verdächtige, die sich nach Russland abgesetzt
haben sollen, identifiziert habe, wird aber nie bestätigt.

Unklar ist auch, ob die Skripals zur Aufklärung des Falls beitragen
können. Es sei schockierend, dass sie mit einem Nervengift
angegriffen worden seien, sagt Julia Skripal, als sie Ende Mai vor
eine Kamera tritt. An ihrem Hals ist eine deutliche Narbe zu
erkennen. Wochenlang hatte sie im künstlichen Koma gelegen, beatmet
über einen Schlauch in der Luftröhre. Der Heilungsprozess sei
«langsam und extrem schmerzhaft» gewesen, berichtet sie. Das Angebot
der russischen Botschaft, Kontakt aufzunehmen, wolle sie vorerst
nicht annehmen, sagt die 33-Jährige. Sie und ihr Vater halten sich an
einem unbekannten Ort in Großbritannien auf.

Der Kreml äußert die Vermutung, die Video-Botschaft Julia Skripals
könne unter Druck entstanden sein. Immer wieder fordert Moskau Zugang
zu den Skripals und Beweismitteln - ohne Erfolg. Die Briten hätten
die Skripals selbst vergiftet, versucht der russische Botschafter in
verschiedenen Varianten glaubhaft zu machen. Der Fall wirkt zuweilen
wie aus dem Drehbuch eines James-Bond-Thrillers.

Der russische Präsident Wladimir Putin zweifelt gar an, ob das Gift
überhaupt zum Einsatz kam. «Dann wäre er sofort gestorben», sagt
Putin über den Ex-Spion bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela
Merkel in Sotschi kurz nach der Entlassung Sergej Skripals aus dem
Krankenhaus Mitte April.

Dass Sergej und Julia Skripal gerettet werden konnten, grenzt nach
Ansicht der Ärzte fast an ein Wunder. «Als uns erstmalig bewusst
wurde, dass das ein Nervenkampfstoff war, gingen wir davon aus, dass
sie nicht überleben», sagte Stephen Jukes, Facharzt auf der
Intensivstation des Krankenhauses im südenglischen Salisbury, in
einem BBC-Interview.

Ob die Attentäter jemals identifiziert werden können, ist unklar. Das
Verhältnis zwischen Russland und Großbritannien wird sich nicht so
schnell erholen - soviel scheint sicher.