Wenn nach einem Schlaganfall die Worte fehlen Von Christina Sticht, dpa

Die Sprachstörung Aphasie ist kaum bekannt. Den Betroffenen liegen
die richtigen Worte auf der Zunge, aber sie können sie nicht äußern.

Außenstehende halten die Patienten manchmal für verstockt, depressiv
oder gar geistig behindert.

Bad Nenndorf (dpa) - In der Klinik Niedersachsen helfen Karten mit
bunten Bildern Schlaganfall-Patienten, ihre verlorenen Worte
wiederzufinden. Auf einer Karte ist ein Affe abgebildet, auf einer
anderen eine Banane. Der Mann mit den kurz geschorenen grauen Haaren
beugt sich über den Tisch und legt mit kleinen Holzbuchstaben das
Wort Elefant. Es ist in seinem Kopf, aber es fällt ihm schwer, es
auszusprechen. Im Herbst hat der 55-Jährige aus dem Kreis Nienburg
einen Schlaganfall erlitten, im Aphasie-Zentrum der Klinik in Bad
Nenndorf macht er täglich Fortschritte. Der großgewachsene Manager
ist ein offener Typ, er lacht viel und versucht, so gut er kann, sich
mitzuteilen. Dabei stößt er immer wieder an seine Grenzen.

Mehr als 100 000 Menschen in Deutschland haben eine Aphasie, die
meisten von ihnen als Folge eines Schlaganfalls. Im schlimmsten Fall
können sie sich gar nicht mehr äußern oder nur noch Ja und Nein
sagen. Andere vertauschen Laute und Wörter, können keine ganzen Sätze

mehr bilden oder haben Wortfindungsstörungen. Eine Aphasie betrifft
oft auch das Verstehen, Lesen und Schreiben. Es ist aber keine
Denkstörung, die Patienten sind geistig völlig klar und haben auch
ihr zuvor erworbenes Wissen noch parat.

«Das ganze Ausmaß der Aphasie ist in der Bevölkerung viel zu wenig
bekannt», sagt der Chefarzt der Neurologie der Klinik Niedersachsen,
Hans Jörg Stürenburg. Gegen die Sprachstörungen gebe es keine
Medikamente. Wichtig sei, möglichst früh mit einer intensiven
Sprachtherapie zu beginnen. «Viele Betroffene tragen schwer daran,
sozial ausgegrenzt zu werden», berichtet Sprachheilpädagogin Daniela
Kraune. «Sie werden oft abgestempelt, nach dem Motto: «Der ist
betrunken, nicht ganz dicht oder behindert».»

Anlässlich des Tages gegen den Schlaganfall am 10. Mai weist der
Bundesverband Aphasie darauf hin, dass Patienten mit Sprachstörungen
häufig bürokratische Hürden zu überwinden haben. Nach der Entlassun
g
aus der Reha-Klinik müssten die Genehmigung einer intensiven
ambulanten Sprachtherapie und die Kostenübernahme durch die
Krankenkassen einfacher werden, fordert die Geschäftsführerin des
Selbsthilfeverbandes, Dagmar Amslinger.

Eine 2017 im Fachmagazin «Lancet» veröffentlichte Studie unter
Leitung von Sprachforschern der Universität Münster belegt, dass die
intensive Sprachtherapie für Aphasie-Patienten auch dann noch wirkt,
wenn der Schlaganfall ein halbes Jahr oder länger zurückliegt. Nicht
betroffene Hirnbereiche übernehmen die Funktion des zerstörten
Sprachzentrums, das bei den meisten Menschen in der linken Hirnhälfte
liegt. Einige Patienten sind zwar fast völlig verstummt, können aber
noch Volkslieder anstimmen, Floskeln äußern oder fluchen, denn diese
sind meist in der rechten Hirnhälfte abgespeichert.

In der Bad Nenndorfer Reha-Klinik bekommen schwer betroffene
Patienten bis zu zehn Stunden wöchentlich Sprachtherapie: allein, in
Gruppen, computergestützt und als Alltagstraining, etwa beim
Einkaufen.

Im Aphasie-Regionalzentrum-Klinik Niedersachsen trifft sich zudem
einmal im Monat eine Selbsthilfe-Gruppe, zu der Betroffene und deren
Angehörige gehören. Bei Marion Schlüchtermann etwa liegt der
Schlaganfall schon fast zehn Jahre zurück. Der 51-Jährigen ist nicht
anzumerken, dass sie komplett neu sprechen lernen musste. Sie wirkt
topfit, deshalb wird in ihrer Umgebung häufig vergessen, dass sie
nicht mehr so belastbar ist wie früher.

Auch Maraike Coith hat sich nach einem Reitunfall 2011, bei dem sie
ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt, zurückgekämpft. Anfangs habe sie
mitunter sogar Nicken und Kopfschütteln verwechselt, berichtet ihr
Ehemann. Inzwischen hat das Paar einen kleinen Sohn, die 39-Jährige
arbeitet wieder. Nur manchmal, zum Beispiel vor wichtigen
Telefongesprächen, überfällt Maraike Coith die Panik aus der Zeit,
als ihr die Worte fehlten: «Mein Gehirn war wie eine Kommode mit
vielen Schubladen, aber ich wusste nicht mehr, in welcher das Wort,
das ich suchte, abgelegt war.»