50 Jahre 1968 - Ein Besuch bei Gretchen Dutschke Von Caroline Bock, dpa

Kaum ein Name steht in Deutschland so für «1968» wie Rudi Dutschke.
Seine Frau Gretchen hat viel mit ihm erlebt - von der Bewunderung bis
zu Drohungen. Nach dem Attentat war alles anders.

Berlin (dpa) - Gretchen Dutschke hat ihren Mann gewarnt. An
Heiligabend 1967 wurde Rudi Dutschke in der Berliner Gedächtniskirche
von einem aufgebrachten Gottesdienstbesucher mit einer Krücke blutig
geschlagen. Sie sagte zu ihm: «Es sieht nicht gut aus. Du musst
vorsichtiger sein. Sie wollen dich umbringen.» Vor 50 Jahren ist es
dann passiert: Am 11. April 1968 schoss ein Attentäter auf den
berühmten linken Revoluzzer und verletzte ihn lebensgefährlich.

Gretchen Dutschke war Jahrzehnte die Frau an Rudis Seite. Mit 21
Jahren, da hieß sie noch Klotz, kam sie 1964 mit dem Kohledampfer aus
den USA über Antwerpen nach Deutschland. Sie wollte die Sprache Kants
lernen. Im Café am Steinplatz in Berlin traf sie einen jungen Mann
mit schwarzen Haaren und kurzer Lederhose, der einen Stapel
polnischer Bücher bei sich hatte. Ob er aus Polen komme, fragte ihn
die Amerikanerin. Er sagte: «Nein, aber ich lerne Polnisch, damit ich
die Bücher im Original lesen kann. Ich heiße Rudi, Rudi Dutschke.»

Es war, so sagt es Gretchen Dutschke heute, Liebe auf den ersten
Blick. Der Rest ist deutsche Geschichte. Die beiden heirateten 1966.
Rudi Dutschke wurde zum Wortführer der linken Studentenbewegung. Er
starb Heiligabend 1979 im dänischen Exil an den Spätfolgen des
Attentats. Kein Name steht in Deutschland so für «1968» wie Rudi
Dutschke, der bewundert wie angefeindet wurde.

50 Jahre später ist seine Witwe eine gefragte Frau. Nach einer viel
beachteten Biografie über Rudi Dutschke («Wir hatten ein
barbarisches, schönes Leben») hat sie ein neues, lesenswertes Buch
geschrieben, über die 60er Jahre und was sie für heute bedeuten. Es
wird einen Fernsehfilm geben. Auch auf der Leipziger Buchmesse war
sie unterwegs. Kommt eine Dutschke-Renaissance?

Um die Revolte 1968 drehen sich heute wieder politische Debatten.
Passend dazu kann man sich bei Youtube alte Fernsehausschnitte
anschauen: Rudi Dutschke trägt darin einen geringelten Pulli, den
Gretchens Mutter eigentlich für sie gestrickt hatte.

Gretchen Dutschke ist eine Zeitzeugin, die anschaulich erzählt und
schreibt: «Während draußen also schon die Weltrevolution wartete,
regierte drinnen, im Reich der Gardinen, noch Mutti - oder versuchte
es zumindest.» Das Lebensgefühl der Studenten damals.

Gretchen Dutschke, heute 76, ist seit 2009 wieder in Deutschland,
nach Stationen in den USA und Vietnam. Sie lebt in einem Berliner
Frauen-Wohnprojekt. Das Lachen, die Augen und der graue Pagenkopf
sind wie ein Echo der alten Schwarz-Weiß-Fotos, sie spricht mit
amerikanischem Akzent.

Gretchen Dutschke findet, dass Deutschland heute «stolz» auf sich
sein kann und das, was die 68er erreicht haben. «Stolz» - das sieht
sie auch als «Provokation» gegen Rechte, die aus ihrer Sicht
versuchen, das Erbe der 68er anzugreifen.

Mittlerweile hat die Amerikanerin auch die deutsche
Staatsbürgerschaft. «Ich denke, dass man wirklich stolz sein kann,
was Deutschland geschafft hat und noch schafft», sagt Gretchen
Dutschke. 1951 seien in einer Umfrage nur zwei Prozent der Deutschen
für die Demokratie gewesen, heute sei das Bild ganz anders. Das sei
«eine riesige Leistung». Das meint sie auch mit Blick auf andere
Länder, wo Rechtsextremismus und Hasskultur stärker verbreitet sind.

Auch Kinderläden und die Frauenbewegung verbindet sie mit den guten
Seiten nach 1968. Aber die linken Männer früher: naja. Die waren
ihren viel kritisierten reaktionären Vätern in einer Hinsicht doch
ähnlicher, als ihnen lieb war, wie Gretchen Dutschke schreibt. «Sie
waren weitgehend eben auch Machos, die Frauen nur in bestimmten
Augenblicken wirklich ernst nahmen.»

Die Kommune 1, das legendäre Berliner Wohnexperiment, sieht Gretchen
Dutschke kritisch. «Die ganze Kommune-Geschichte, das kam erstmal von
mir.» Sie habe ihrem Mann von der Idee des gemeinsamen Lebens
erzählt. Er habe das gut gefunden. Später sei dann der «Haupt-Chauvi
»
Dieter Kunzelmann von München nach Berlin gekommen, einer der
prominenten Kommunarden. «Da war ich schon unglücklich, weil ich mir
vorstellen konnte, wie das laufen würde.»

Im Buch ist von «Psychoterror» die Rede. Das Verhältnis zwischen den

Männern und Frauen sei schlecht gewesen, sagt Gretchen Dutschke. «Die
Frauen sollten Freiheit geben, aber das bedeutete auch, dass die
Frauen nicht mehr Nein sagen konnten, auch wenn sie es wollten.» Was
ihr an der Kommune 1 gefiel: die «interessanten Happenings», die
kreativen und lustigen Polit-Aktionen.

Die Kommunen-WG sei in Echtzeit zum Mythos geworden, heißt es im
Buch. «Der Ruf der Kommune 1 hatte sich bis zu Oberschülerinnen
herumgesprochen. Liebesbriefe mit roten Herzen und «abgestempelt» mit
Lippenstift fanden sich im Kommune-Briefkasten, und etliche der
Absenderinnen landeten im Zimmer von Fritz Teufel. Manche saßen
allerdings auch nur weinend vor der Tür.»

Gretchen und Rudi Dutschke waren da als verheiratetes Paar
vergleichsweise bürgerlich. Er hörte lieber Arbeiterlieder als Rock.
Seine Rhetorik war nicht immer einfach zu verstehen. Überlebt hat der
«lange Marsch durch die Institutionen», der von Dutschke geprägt
wurde.

Dieses Erbe sieht Gretchen Dutschke auch bei den drei Kindern.
Hosea-Che (50) leitet eine Gesundheitsbehörde in Dänemark,
Polly-Nicole (48) ein Pflegeheim, Rudi-Marek (37) war mal in Berlin
bei den Grünen aktiv. Die Werte, die ihnen vom Vater blieben? «Die
Liebe zur Menschheit, dass man die Unterdrückung oder Beleidigung von
Menschen nicht akzeptieren kann.»

Bedrückend muss die Zeit 1968 gewesen sein, als die Drohungen gegen
Rudi Dutschke so heftig wurden, dass die junge Familie ständig einen
neuen Unterschlupf finden musste. Dann der 11. April: Rudi Dutschke
war am Kurfürstendamm mit dem Rad unterwegs und wollte in einer
Apotheke Nasentropfen für den kleinen Sohn Hosea holen. Der
Attentäter soll noch «Du dreckiges Kommunistenschwein!» gerufen
haben, bevor er Dutschke niederschoss. Straßenschlachten und heftige
Proteste gegen die Springer-Presse folgten.

Dutschke überlebte nur knapp, musste mühsam alles wieder lernen, auch
den Weg zurück in die Wissenschaft und ins politische Geschehen.
Zuletzt lebte das Paar in Aarhus an der dänischen Ostsee.

An Weihnachten 1979 hatte Gretchen Dutschke die Gans in den Ofen
geschoben und ging zum Bad, um nach ihrem Mann zu sehen. «Ich öffnete
die Tür zum Bad und sah, dass er leblos in der Wanne lag. Ich schrie,
und im selben Augenblick zog ich ihn aus dem Wasser. Hosea versuchte,
ihn wiederzubeleben. Vergeblich. Er war tot, ertrunken nach einem der
inzwischen seltener gewordenen epileptischen Anfälle, Folge des
Attentats gut zehn Jahre zuvor.»

Rudi Dutschke, der seine Jugend in der DDR verbracht hatte, wurde nur
39 Jahre alt. «Zehn Jahre später hätte er den Fall der Berliner Mauer

erlebt», schreibt seine Witwe.

Und heute? Gretchen Dutschke hatte nach dem Tod ihres Mannes noch
weitere Beziehungen - «aber keine, die so waren». Ihr Buch hat sie
den sieben Enkeln gewidmet. Vor kurzem war sie nach langem einmal
wieder in der alten brandenburgischen Heimat ihres Mannes, in
Luckenwalde. Dort lebt eine Schwägerin im Haus der Dutschke-Familie.
Gretchen Dutschke plauderte mit einem alten Nachbarn, den sie
Jahrzehnte nicht gesehen hatte.

In Berlin gibt es seit 2008 nach einem Bürgerentscheid eine
Rudi-Dutschke-Straße, die ausgerechnet am Axel-Springer-Haus liegt.
Gretchen Dutschke findet das gut. Sie hätte in Deutschland am
liebsten eine Regierung aus SPD, Linken und Grünen. Sie weiß aber,
dass das derzeit nicht geht.

Ob Rudi Dutschke heute ein politisches Amt hätte? Er war bei den
Anfängen der Grünen dabei. Den Aufstieg der Partei hat er nicht mehr
erlebt. Vielleicht wäre er dabei geblieben, sagt seine Frau.
«Wahrscheinlich wäre er sehr kritisch gegenüber dem Weg gewesen, den

sie gegangen sind.»