Fahrräder im Klassenzimmer - das erste Schuljahr ist abgestrampelt Von Christiane Gläser, dpa

Im Klassenzimmer stehen fünf Fahrräder. Auf ihnen strampeln
Aschaffenburger Gymnasiasten abwechselnd - jeder mindestens eine
Unterrichtsstunde am Tag. Nach einem Schuljahr zeigt sich, was das
gebracht hat.

Aschaffenburg (dpa) - Zweite Stunde. Deutsch. Die elfjährige Amelie
Pabst holt Schreibheft und Stifte aus dem Rucksack und legt alles vor
sich auf den Tisch. Klassenlehrer Stefan Megerle erklärt, was die
Fünftklässler tun sollen und schreibt Stichpunkte an die Tafel.
Amelie hört aufmerksam zu - und tritt dabei langsam in die Pedale.
Die Schülerin sitzt auf einem Steh-Fahrrad. So wie die beiden Jungs
neben ihr. Die drei haben die aktuelle «Ergometer-Schicht». Die
Klasse 5a des Friedrich-Dessauer-Gymnasiums (FDG) in Aschaffenburg
ist der Mittelpunkt eines Pilotprojektes. Schulleiter Michael Lummel
wollte damit vor allem eines erreichen: bessere Noten, gesündere
Schüler und ein gutes Klassenklima.

Dafür radeln die Schüler seit Schuljahresbeginn jeweils eine
Unterrichtsstunde am Tag auf einem der Ergometer im hinteren Teil des
Klassenzimmers. Langsam, damit der Puls nicht mehr als 100 Schläge
pro Minute erreicht. Die Räder sind Spezialanfertigungen mit
Schreibpulten. «Eine Strecke bis weit nach Russland rein sind die
Schüler schon geradelt», sagt Lummel.

Die Ergometerklasse ist eines von mehreren Projekten, die das
Gymnasium und damit die Schüler nach vorn bringen sollen. Dabei setzt
Schulleiter Lummel ausschließlich auf Versuche, die bereits
wissenschaftlich ausgewertet wurden und die schulische Leistung der
Kinder und Jugendlichen gesteigert haben. Effektstärke ist der
wissenschaftliche Begriff dafür, den der neuseeländische
Bildungsforscher John Hattie in die pädagogische Welt gebracht hat.

Das Gymnasium hat eine sehr gemischte Schülerschaft. Viele
bildungsferne Elternhäuser, fast ein Viertel der etwa 1300 Kinder
haben ausländische Wurzeln. Seit Lummel auf die Forschung setzt, hat
sich spürbar was bewegt: «Wir haben die Durchfallquote unserer
Schüler in den vergangenen Jahren mehr als halbiert und liegen
inzwischen weit unter dem bayerischen Durchschnitt.» Die leichte und
stetige Bewegung beim Lernen fördert Konzentrationsfähigkeit,
Klassenklima und Gesundheit.

Klassenlehrer Megerle ist nach dem ersten Schuljahr mit dem Ergometer
ebenfalls zufrieden: «Es fällt niemand in der Klasse durch.» Die
Kinder seien zudem von der Grundschule viel mehr Aktivität gewöhnt
und müssten nun im Gymnasium so lange still sitzen. «Da haben sie
einen hohen Bewegungsdrang. Deshalb passt das Ergometerprojekt auch
sehr gut zum Alter.» Auch künftig wird es ein Angebot für die fünft
e
Klasse bleiben. Andere Projekte gibt es zur Leseförderung für Kinder
mit Lernschwierigkeiten, zu Physik- und Chemie-Experimenten, als
gezielte Begabtenförderung oder zur Teilnahme an Wettbewerben wie
Mathe-Olympia oder Jugend forscht.

Eine zweite Säule des neuen Schulkonzeptes ist der lernende Lehrer.
«Man muss seine Lehrer mitnehmen und nicht allein vor sich hin
wursteln lassen», sagt Rektor Lummel. Nur so könne die Qualität
gesteigert und damit der Unterricht noch besser werden. «Kern aller
Ideen ist: Wie kann ich die Leistungen der Schüler verbessern?»

Offene Lernformen, autonome Schülerschaft oder freies Arbeiten findet
man im Friedrich-Dessauer-Gymnasium dagegen selten. «Die Effektstärke
ist erwiesenermaßen sehr gering. Wir machen das auch mal
zwischendurch. Aber als durchgängiges Unterrichtsmittel macht es
einfach keinen Sinn.» Seit Lummel das neue Konzept an die Schule
geholt hat, gewinnen Schule und Schüler sogar Preise. Das Gymnasium
ist zuletzt «Jugend forscht»-Schule 2017 geworden.

Bildungsforscher Benjamin Nagengast vom Hector-Institut für
Empirische Bildungsforschung an der Uni Tübingen befürwortet Lummels
Strategie. «Es ist sehr zu loben, wenn Schulen bei ihrer
Schulentwicklung darauf zurückgreifen, wofür es wissenschaftliche
Evidenz gibt und nicht nur auf ihr Bauchgefühl hören oder Ideologien
folgen.» Eine Herausforderung dabei sei, die wirklich
aussagekräftigen Studien zu erkennen. «Denn auch in der Wissenschaft
gibt es durchaus verschiedene Meinungen und Streit. Es ist von außen
nicht immer gut sichtbar, was auch wirklich gut belegt ist.»

Und was sagen die Schüler zum Unterricht auf dem Rad? Amelie hat eine
eindeutige Meinung: «Ich merke schon, dass ich besser mitmache, wenn
ich auf dem Rad sitze. Schon allein, weil ich vorne mehr mit meinen
Tischnachbarn reden würde. Das geht hier hinten gar nicht.»