Warum Polizisten zur Waffe greifen Von Michael Kieffer, dpa

Im Schnitt einmal pro Woche haben Polizisten in Deutschland zuletzt
auf Menschen geschossen. Elf Menschen starben dadurch. Ein
Kriminologe fordert Konsequenzen - vor allem im Umgang der Polizei
mit psychisch auffälligen Kontrahenten.

Münster (dpa) - Im Fernsehen schießen Polizisten quasi täglich, im
echten Leben machen die Beamten deutlich seltener von der Waffe
Gebrauch. Doch wenn sie es tun, erregt jeder einzelne dieser Fälle
viel Aufsehen - wie vor wenigen Tagen, als ein Spezialeinsatzkommando
(SEK) in Sachsen-Anhalt einen 28-Jährigen erschoss, nachdem ein
Familienstreit eskaliert war. Fragen und Antworten zum
Schusswaffengebrauch der deutschen Polizei:

Wie oft schießen Polizisten in Deutschland bei ihren Einsätzen?

Im vergangenen Jahr hat die Polizei in 52 Fällen auf Menschen
geschossen, rechnerisch gesehen also jede Woche einmal. Elf Menschen
starben, weitere 28 wurden verletzt. Hinzu kamen Warnschüsse. Wie aus
den Zahlen der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster zudem
hervorgeht, schießen Polizisten vor allem, um gefährliche, kranke
oder verletzte Tiere zu töten. 12 656 Fälle dieser Art wurden
vergangenes Jahr in Deutschland registriert.

Kommen heute mehr Menschen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch
ums Leben als noch vor einigen Jahren?

Nach den Statistiken, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegen,
lagen die Zahlen für 2016 etwas höher als in den Vorjahren. 2015
starben zehn Menschen, weitere 22 wurden verletzt. 2014 waren es
sieben Tote und 30 Verletzte - und im Jahr 2013 laut Hochschule der
Polizei acht Tote und 20 Verletzte. Angesichts von mehr als 300 000
Polizisten, die es in Deutschland bei Bund und Ländern gibt, bewegen
sich diese Zahlen dennoch auf eher niedrigem Niveau.

Wird die Polizei schießwütiger?

«Nein, wir hatten und haben keine «schießwütige» Polizei», beto
nt der
Kriminologe Prof. Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum.
«Nach wie vor benutzen die allermeisten Polizeibeamtinnen und
-beamten ihre Dienstwaffe ein Leben lang ausschließlich auf dem
Schießstand.» Ähnlich sieht es die Gewerkschaft der Polizei (GdP).
Deren Bundesvorsitzender Oliver Malchow weist darauf hin, dass die
«Statistik über den polizeilichen Schusswaffengebrauch gegen Menschen
weitgehend gleichbleibend ist und Schüsse auf Menschen relativ selten
sind». In der GdP-Mitgliederzeitschrift «Deutsche Polizei» hieß es

kürzlich, auch weil in Film und Fernsehen ständig geballert werde,
habe die Öffentlichkeit eine verzerrte Vorstellung von Polizeiarbeit.

In welchen Situationen schießen Polizisten?

Die Todesfälle im vergangenen Jahr gingen der Statistik zufolge
allesamt auf Notwehr oder Nothilfe zurück - Letzteres sind Fälle, bei
denen Polizisten anderen Menschen in Lebensgefahr helfen mussten.
Gründe zum Schießen könnten etwa auch die Verhinderung von Verbrechen

oder Fluchtvereitelung sein. Aus Sicht von Reinhold Bock,
Polizeihauptkommissar im Ruhestand und Leiter der bundesweiten
Selbsthilfegruppe Schusswaffenerlebnis, bergen Messerangriffe ein
besonders großes Risiko für Polizisten: «Da kann ich den Kollegen
nicht verdenken, ihr Leben durch die uns vom Dienstherrn zur
Verfügung gestellte Dienstwaffe zu verteidigen.» Gewerkschaftschef
Malchow sagt: «Mehr Gewalt bedeutet für meine Kolleginnen und
Kollegen, sich stärker auf die Eigensicherung konzentrieren zu
müssen, was dann auch das Ziehen der Waffe beinhaltet.» Das sei «ein

letztes, aber zulässiges Mittel der Notwehr». So war der
Schusswaffengebrauch auch beim Einsatz von Spezialkräften während der
Krawalle am Rande des G20-Gipfels in Hamburg freigegeben, wie ein
SEK-Führer sagte.

Auf wen schießen Polizisten?

«Wenn man sich die Fälle des tödlichen Schusswaffengebrauchs genauer

ansieht, dann stellt man fest, dass in den meisten Fällen die Opfer
psychisch Kranke oder gestörte Personen sind», erklärt Prof. Feltes.

«Hier haben wir tatsächlich eine Zunahme und den dringenden Bedarf
nach mehr Fortbildung für die Polizei.»

Wie steht es um die Ausbildung?

Feltes sagt, viele Beamte seien nicht im Erkennen von psychisch
gestörten Personen geschult - und noch weniger in der Frage, wie man
mit ihnen umgehen sollte. Zwar habe Deutschland «eine sehr gut
ausgebildete Polizei»; die allermeisten Alltagssituationen würden
sehr professionell gelöst. «Aber leider wird das in der Ausbildung
vermittelte Wissen nicht regelmäßig aktualisiert, was besonders im
Bereich der psychischen Erkrankungen aber unbedingt notwendig ist»,
betont der Kriminologe. GdP-Chef Malchow sagt: «Die
Handlungssicherheit im Umgang mit der Dienstwaffe fördert
regelmäßiges Training. Weil jedoch seit der Jahrtausendwende viele
Stellen bei der Polizei abgebaut wurden, die Belastungen zugenommen
haben, zudem viele Kolleginnen und Kollegen wegen Krankheiten
ausfallen, bleibt dafür oft nicht genügend Zeit.»

Wie sieht der Vergleich zu den USA aus?

Nach einer Erhebung der «Washington Post» haben Polizisten in den USA
im vergangenen Jahr 963 Menschen erschossen. Wenn man die
Einwohnerzahlen berücksichtigt (rund 324 Millionen in den USA und
rund 81 Millionen in Deutschland), dann ist die Zahl der tödlichen
Polizeischüsse in den USA grob gesagt mehr als 20 Mal so hoch wie in
Deutschland.

Wie gehen Polizisten damit um, einen Menschen erschossen zu haben?

Betroffene Polizisten finden Hilfe etwa in der Selbsthilfegruppe
Schusswaffenerlebnis. Der Bedarf sei so hoch, dass die Bewerber zum
Beispiel nach der Schwere ihres Erlebnisses ausgewählt werden
müssten, sagt Leiter Reinhold Bock. Eine Wiedereingliederung in den
Polizeialltag sei erfolgreich, wenn Betroffene adäquat betreut
würden. Bock beschreibt die Situation von Polizisten, die einen
Menschen erschossen haben, so: «Die Presse schreibt negativ, die
Kollegen machen (schlechte) Witze über dich, du fühlst dich
unverstanden. Deine Gefühlswelt gerät ins Wanken: «Du bist doch dazu

da Menschen zu retten, zu helfen und jetzt hast du ein Menschenleben
ausgelöscht.»» Wer mit solchen Gedanken alleine gelassen werde, finde

sehr schwer wieder ins Berufsleben zurück.

Die Polizei muss sich immer wieder Vorwürfe gefallen lassen, wenn
Beamte schießen. Worum geht es bei dieser Kritik zum Beispiel?

Nach Beobachtung von Prof. Feltes gibt es «einen gewissen Widerstand
innerhalb der Polizeiführung und der Innenministerien», wenn es um
das Thema Schusswaffengebrauch geht. «Die Todesfälle werden nicht
immer entsprechend aufbereitet, und vor allem werden nicht die
nötigen Konsequenzen aus den Erfahrungen gezogen», kritisiert der
Wissenschaftler. Für Fälle, bei denen die Polizei mit psychisch
gestörten Kontrahenten zu tun hat, fordert er etwa, entsprechend
geschulte Experten wie Psychologen und Mediziner einzubeziehen -
schon bei der ersten Information, also meist nach dem Notruf.