Krieg, Gewalt, Verfolgung: Jede Minute 20 neue Vertriebene weltweit

Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und die Türkei für Europa
Flüchtlinge aufhält, schaffen es nur noch relativ wenige, sich bis in
die EU durchzuschlagen. Problem gelöst? Mitnichten.

Genf/Berlin/Brüssel (dpa) - Die Flüchtlingskrise scheint weit weg:
keine Bilder mehr von Menschenschlangen an der bayerischen Grenze,
von überfüllten Asylunterkünften, Verzweifelten an geschlossenen
Grenzübergängen, keine Sondersendungen mehr über chaotische Zuständ
e
in Deutschland und Europa. Ist die Krise damit vorbei? Keineswegs.
Weltweit werden jede Minute 20 Menschen in die Flucht getrieben. Der
Weltflüchtlingsbericht zeichnet ein düsteres Bild.

65,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene weltweit, wo sind die
Menschen alle?

Die Türkei beherbergte 2016 weltweit die meisten Flüchtlinge, 2,9
Millionen. Der Libanon hat gemessen an der eigenen Bevölkerung den
meisten Menschen Zuflucht geboten. In dem Land am Mittelmeer, halb so
groß wie Sachen-Anhalt, war jeder sechste Bewohner Flüchtling.
Pakistan beherbergte 1,4 Millionen Geflüchtete, Iran und Uganda je
fast eine Million, Äthiopien fast 800 000, Jordanien fast 700 000. 84
Prozent der Vertriebenen sind in Entwicklungsländern. «Dies ist keine

Krise der reichen Welt, sondern eine Krise der Entwicklungsländer»,
betont der Chef des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR), Filippo Grandi. Für
Deutschland nennt das UNHCR 669 500 Flüchtlinge, Platz 8.

Wo ist die Not am größten?

Die meisten Flüchtlinge stammen nach wie vor aus Syrien, 5,5
Millionen. Im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat gewinnt
die Regierung zwar Oberhand, aber mit den untereinander
rivalisierenden Oppositionskämpfern ist keine Annäherung in Sicht.
Die zweitgrößte Gruppe kommt aus Afghanistan (2,5 Millionen). Am
rasantesten verschärfte sich die Krise aber in Südsudan. 2016 waren
schon zwölf Prozent der zwölf Millionen Einwohner des jungen Landes
vor einem ethnisch verfeindeten Bürgerkriegsparteien auf der Flucht,
inzwischen sind es schon 17 Prozent. Die selbst bitterarmen
Nachbarländer können den Ansturm kaum bewältigen.

Gegen Flüchtlinge wird aus der rechten Ecke immer mit Bildern
gewaltbereiter junger Männer Stimmung gemacht. Stimmt das überhaupt?

Nein. Die Hälfte der Flüchtlinge, 51 Prozent, sind unter 18. Gerade
Familien nehmen größte Gefahren in Kauf, um ihre Kleinen vor Krieg,
Gefechten, Gewalt und Verfolgung zu retten. Zudem sind 75 000 Kinder
sogar ohne Eltern unterwegs, teils, weil sie auf der Flucht getrennt
wurden oder weil die Eltern, wenn sie Menschenschmuggler bezahlten,
nur Geld für die Kinder hatten.

Kinder würden besonders leicht Opfer von Entführungen, sexuellem
Missbrauch oder sogar Organhandel, so die SOS-Kinderdörfer. «Viele
von ihnen leiden unter enormem Stress: Sie haben Kriege oder Hunger
erlebt, schlimme Erfahrungen auf der Flucht gemacht und müssen nun
ohne Familie in einer neuen Kultur klarkommen», sagt Orso Muneghina,
Leiter des Nothilfe-Programms der SOS-Kinderdörfer in Italien.

Wie hat die EU nach dem Andrang 2015 reagiert?

«Wir sollten niemals erlauben, dass sich das Chaos von 2015 in Europa
wiederholt», sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Grenzschließungen
und Zäune auf der Balkanroute haben die Zahl der Asylsuchenden ebenso
nach unten gedrückt wie der Flüchtlingspakt mit der Türkei. Außerde
m
wurde die EU-Grenzschutzagentur Frontex ausgebaut, damit sie Länder
an den Außengrenzen der Europäischen Union künftig besser vor
ungewollter Migration schützen helfen kann.

Hilft Europa nicht auch den Herkunftsländern?

Im eigenen Interesse, ja. Die sogenannten Migrationspartnerschaften
funktionieren nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Wer mit
Europa in solchen «Partnerschaften» zusammenarbeitet, soll mehr
Entwicklungsgelder bekommen. Als Musterschüler gilt Niger. Das
Transitland in Westafrika habe den Grenzschutz und den Kampf gegen
Schleuser verstärkt. Dafür bekommt es Unterstützung für die
Landwirtschaft, bei beruflicher Ausbildung und Jugendbeschäftigung.
Weniger Fortschritte gibt es in Nigeria, Mali, Senegal und Äthiopien.

Sind sich die EU-Staaten einig beim Umgang mit Flüchtlingen?

Keinesfalls. Wegen ihrer Weigerung, Italien und Griechenland
Flüchtlinge abzunehmen, geht die EU-Kommission nun gegen Ungarn,
Polen und Tschechien vor. Die Slowakei und Ungarn klagen ihrerseits
vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Beschluss zur Umverteilung
von bis zu 120 000 Flüchtlingen. Und der Versuch, eine dauerhafte
Lösung zur besseren Verteilung von Migranten zu finden, kommt nicht
voran. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl fürchten, dass sich
die EU-Staaten nur auf die Absenkung von Schutzstandards einigen.

Und wie ist die Lage in Deutschland?

Die EU-weiten Abschottungsbemühungen haben auch hier Wirkung gezeigt.
Nach dem «Rekordjahr» 2015 mit 890 000 Asylsuchenden gingen die
Zahlen deutlich runter. 280 000 Schutzsuchende wurden 2016
registriert. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres waren es
rund 77 000. Aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist
noch immer dabei, einen Berg alter Asylanträge abzuarbeiten.

Wo liegt das größte Problem?

Bei der Integration. Viele Flüchtlinge konnten zwar Notunterkünfte
verlassen und wurden in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen
untergebracht. Die Hilfsorganisation Pro Asyl kritisiert jedoch, dass
es inzwischen wieder einen Trend hin zu größeren Unterkünften gebe,
in denen die Menschen länger bleiben müssten. Auch dauert es meist,
bis Flüchtlinge in Deutschland Arbeit finden. Haupthinderungsgrund
sind mangelnde Deutschkenntnisse und fehlende Berufsausbildungen. Im
Mai galten etwa 484 000 Flüchtlinge als «arbeitssuchend».

Wie hat sich die Aufnahmepolitik Deutschlands geändert?

Die Bundesregierung hat das Asylrecht verschärft und schiebt Menschen
leichter ab. Pro Asyl beklagt, die Willkommenskultur in Deutschland
habe sich zu einer Abschiebekultur gewandelt. Syrer erhalten
inzwischen in der Regel nur noch einen eingeschränkten Schutzstatus.
Auch der Familiennachzug wurde begrenzt. Menschenrechtsorganisationen
und Oppositionspolitiker kritisieren die Kursänderungen scharf.

Was will der UNHCR-Chef von den reichen Ländern?

Einerseits Geld. Die meisten Spendenaufrufe sind nicht einmal zu
einem Viertel gedeckt. Manchmal müssen Essensrationen
in Flüchtlingslagern gekürzt werden. «Dann werden die Lager Horte d
er
Verzweiflung», berichtet Grandi. Mehr Leute versuchten dann, sich auf
eigene Faust nach Europa durchzuschlagen. Andererseits dringt Grandi
auf mehr Programme, die die Lage in den Krisenregionen verbessern,
damit die Menschen dort eine Chance auf einen Neuanfang bekommen.

Übrigens: die USA sind nach wie vor mit Abstand der größte Geldgebe
r
des UNHCR. 51 Prozent der 189 000 Menschen, die 2016 eine neue Heimat
fanden, wurden in den USA aufgenommen. Obwohl Präsident Donald Trump
die angepeilte Zahl für die permanente Aufnahme von Flüchtlingen auf
50 000 halbiert hat, wäre das immer noch das größte
Ansiedlungsprogramm der Welt.