Ernährung in Indien: Schöner Schein, brutale Realität Von Stefan Mauer, dpa

Indiens Frauen und Kindern geht es immer besser. Doch immer noch
hungern dort mehr Kinder als irgendwo sonst auf der Welt. Kritiker
warnen: Hilfsprogramme könnten unter die Räder des Wachstums kommen.


Neu Delhi (dpa) - Der Bundesstaat Madhya Pradesh in Zentralindien ist
fast so groß wie Deutschland und hat auch fast so viele Einwohner.
Doch bei einer Fahrt durch die ländlichen Gegenden erinnert wenig an
die Bundesrepublik - oder daran, dass sich Madhya Pradesh in der am
schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft der Welt befindet.
Viele Dörfer haben keine oder nur ausgetrocknete Wasserquellen,
Mütter müssen stundenlang laufen, um ein paar Kilogramm
subventionierten Reis einzukaufen. Und viele Kinder sind deutlich
kleiner, als sie für ihr Alter eigentlich sein sollten.

Wie schlecht es um die Gesundheit vieler Kinder und Frauen in Indien
immer noch bestellt ist, zeigt nun eine neue Studie, die vom dortigen
Gesundheitsministerium in Auftrag gegeben wurde. Für das vierte
«National Family Health Survey» wurden in den Jahren 2015 und 2016
rund 600 000 Menschen in ganz Indien befragt. Zum ersten Mal gab es
eine entsprechende Untersuchung im Jahr 1993, seitdem wurden die
Daten alle fünf bis zehn Jahre aktualisiert.

Die gute Nachricht ist: Im Vergleich zur letzten Studie von 2005 und
2006 haben sich die Daten für fast alle Lebensbereiche verbessert.
Zwar sterben immer noch fünf Prozent der Kinder, bevor sie das fünfte
Lebensjahr erreichen, zehn Jahre zuvor lag der Wert jedoch mit 7,4
Prozent deutlich höher. Auch der Impfschutz hat sich in fast allen
Bereichen deutlich verbessert. Deutlich mehr Frauen können lesen und
schreiben, vier von fünf bringen ihre Kinder in einem Krankenhaus zur
Welt, und deutlich mehr haben Zugriff auf ein Bankkonto.

Trotzdem ist Biraj Patnaik mit den Ergebnissen der Studie
unzufrieden. Er ist Aktivist für das Recht auf Essen und Chef von
Amnesty International in Südasien. «Der Fortschritt im Vergleich zur
vorangegangenen Studie ist unverkennbar», sagt er. «Trotzdem ist das
Niveau der Unterernährung in Indien nicht akzeptabel für ein Land,
das immer noch als die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt
gilt.»

Besonders sticht die Zahl der Kinder unter fünf Jahren heraus, die
wegen mangelnder Ernährung in ihrer Entwicklung verzögert sind. Der
internationale Fachausdruck dafür heißt «Stunting»
(«Unterentwickeltheit»). Laut der offiziellen Studie sind demnach
38,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren davon betroffen. Das sind
laut der aktuellen Volkszählung rund 50 Millionen Kinder. Laut dem
UN-Kinderhilfswerk Unicef sind in Indien sogar 62 Millionen Kinder
davon betroffen.

Das hat nicht nur damit zu tun, dass es zu wenig Essen gibt. Auch zu
einseitige Ernährung oder häufige Krankheiten können dafür sorgen,

dass Kinder sich zu langsam entwickeln. «Auch ein satter Mensch kann
unterernährt sein», sagt Sabine Gabrysch vom Institut für öffentlic
he
Gesundheit der Universität Heidelberg. «Wenn ein Kind zum Beispiel
nur Reis bekommt aber nicht genügend Vitamine und Spurenelemente, ist
das fast genauso gefährlich. Auch eine hohe Belastung mit Keimen
durch mangelnde Hygiene kann den Darm überlasten und verhindern, dass
die Nährstoffe richtig aufgenommen werden.»

Auch Nivedita Varshneya, Landeschefin der Nichtregierungsorganisation
Welthungerhilfe in Indien, sieht die Ergebnisse der Studie als ein
zweischneidiges Schwert: «Die Zahlen zeigen, dass Indien sich in den
vergangenen Jahren verbessert hat. Aber sie zeigen auch klar, dass
wir noch einen langen Weg vor uns haben.»

Eine Gefahr auf diesem Weg könnte ausgerechnet die aktuelle Regierung
sein, die sehr aktiv Gesetze zur Förderung von Wirtschaft und
ausländischen Investitionen erlässt. Amnesty-Mann Patnaik kritisiert,
dass die direkte Ausgabe von Essen an Kinder durch Überweisungen an
die Eltern ersetzt wird. Zudem sollen Hilfsleistungen mit dem
umstrittenen Identifikationsprogramm Aadhaar verknüpft werden, bei
dem Bürger mit Fingerabdruck und Iris-Scan erfasst werden.

«Wir haben von 2010 bis 2014 eine starke Dynamik im Kampf gegen
Hunger aufgebaut», sagt Patnaik. «Gerade drohen wir, sie wieder zu
verlieren».

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