Mit dem Hund zur Uni - Hilfe aus dem Fonds sexueller Missbrauch Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Die seelischen Wunden nach sexuellen Übergriffen in der eigenen
Familie können Jahrzehnte später noch aufbrechen. Für Therapien gibt

es einen Hilfsfonds. Nur, wie lange noch?

Berlin (dpa) - Wenn Pudelmischling «Lappes» zum Seminar tapst, zieht
er alle Blicke auf sich. Ein Hund in der Uni? Kerstin Claus ist das
sehr Recht. Denn dann schaut niemand auf sie. «Ein Assistenzhund
steht für ein medizinisches Problem», sagt sie. «Ich muss nicht
sagen, dass ich ein psychisches Problem habe.» Sie muss mit 47 Jahren
auch nicht erklären, woher das kommt. Dass sie als Teenager sexuell
missbraucht wurde und ihre heutige Angst, unter Menschen zu gehen,
etwas damit zu tun hat.

«Lappes» würde kaum mit zur Uni trotten können, wenn Kerstin Claus'

Helfer auf vier Pfoten nicht vom Hilfsfonds für die Opfer sexuellen
Kindesmissbrauchs in Familien gefördert worden wäre. Doch genau
dieser Fonds, für den die Politik als Konsequenz aus den
Missbrauchsskandalen 100 Millionen Euro versprach, sei spätestens am
Jahresende leer, sagt Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter
des Bundes. «Wenn nichts passiert, ist Ebbe.» Das
Bundesfamilienministerium, bei dem dieser Fonds angesiedelt ist, sagt
so ziemlich das Gegenteil. Es sei nicht davon auszugehen, dass die
Mittel im nächsten Jahr aufgebraucht werden, antwortete eine
Sprecherin.

Der Grund liegt darin, dass die beiden Bundesbehörden unterschiedlich
kalkulieren. Rörig rechnet Bewilligungen für alle bisher
eingegangenen rund 8000 Anträge hoch und kommt auf 64 Millionen Euro.
Das Ministerium zählt allein die bereits bewilligten 2000 Anträge -
und kommt auf 17 Millionen Euro. Das alles wäre kein Drama, wenn der
Fonds wirklich 100 Millionen Euro enthielte. Doch im Moment beläuft
sich das gesamte Fondsvolumen nach Angaben des Ministeriums auf 58,64
Millionen Euro. 3,7 zusätzliche Millionen hat Hessen jüngst noch
zugesagt.

Wer zahlt, gibt Geld für eine «gesamtgesellschaftliche Aufgabe». Im
Klartext heißt das: Die meisten sexuellen Übergriffe in Deutschland
geschahen nicht in kirchlichen und staatlichen Schulen und
Einrichtungen, auch wenn sich der deutsche Skandal im Jahr 2010 daran
entzündete. Haupt-Tatort war und ist mit großem Abstand die eigene
Familie. Der Fonds ist für heute erwachsene Opfer, die noch immer
unter den Folgen leiden, oft die letzte Hoffnung: Eine Möglichkeit,
teure und lange Traumatherapien zu machen, die Krankenkassen in der
Regel nicht übernehmen. Oder einen Hund wie «Lappes» zu bekommen.

Dabei geht es nicht um Einzelfälle. Rörig schätzt die Zahl der
Menschen, die in Kindheit und Jugend sexuelle Übergriffe durchlitten,
in Deutschland auf mehr als eine Million Menschen. Er orientiert sich
dabei an Zahlen der Weltgesundheitsorganisation. Bei den Spätfolgen
von Missbrauch geht es oft um schwere Depressionen oder
Persönlichkeitsstörungen. Denn viele Betroffene haben einen Teil
ihrer Kindheit oder Jugend gleichsam abgespalten - bis bei manchen
etwas im Inneren implodiert.

Kerstin Claus weiß aus eigener Erfahrung, wie plötzlich
Missbrauchserfahrungen noch nach Jahrzehnten ins eigene Leben
einbrechen können. Bei ihr war die Geburt ihrer Tochter und ihre neue
Rolle als Beschützerin eines Mädchens der Auslöser für erste
psychische Probleme.

Sie spricht von sexuellen Übergriffen eines evangelischen Pfarrers,
der zu ihrer Teenagerzeit mit Unterstützung vom Jugendamt eine
Ersatzvater-Rolle in ihrer Familie übernahm - und sie ausnutzte. Ihr
später Versuch, den Pfarrer über die Institution Kirche zur
Rechenschaft zu ziehen, sei gescheitert, sagt sie. Das machte Kerstin
Claus seelisch fertig. Als der Missbrauchsskandal von 2010 an in den
Medien hochkochte, habe sie nicht länger arbeiten können. Kerstin
Claus war Journalistin. Sie wurde krankgeschrieben.

In diesem April sollte der Hilfsfonds für Taten in Familien
ursprünglich geschlossen werden. Allein schon die Ankündigung führte

zu einer Flut von neuen Anträgen. Das Ministerium entschied
daraufhin, ihn unbefristet weiterlaufen zu lassen. Doch dann
weigerten sich auf eine Anfrage von Rörig 13 von 16 Bundesländern
hartnäckig, Geld in den Fonds zu zahlen.

Die Absage an Rörig klingt verschwurbelt. Bereits die Empfehlungen
des Runden Tisches Sexueller Missbrauch für Fälle in Familien seien
von den beteiligten Ländervertretern mehrheitlich nicht mitgetragen
worden, heißt es darin. Thüringen argumentierte zum Beispiel im Mai,
dass es keine Staatshaftung für Missbrauch in Familien gebe. Bremen
sah in einem rein moralischen Appell keine Zahlungsverpflichtung.
Andere Länder forderten den Bund auf, das zersplitterte ergänzende
Hilfssystem samt all seinen Fonds abzuschaffen und das
Opferentschädigungsgesetz (OEG) umfassend zu reformieren.

Am Ende ließen die Nicht-Zahler den Missbrauchsbeauftragten wissen:
«Selbstverständlich ist allen Ländern die gesamtgesellschaftliche
Verantwortung gegenüber dem Leid der Betroffenen bewusst.» Deshalb
engagierten sie sich für die Anerkennung der Opfer, förderten zum
Beispiel Beratungsstellen und unterstützten sie bei der
Therapieplatzsuche.

Das Problem ist nur, dass in der Regel so schnell niemand für eine
Traumatherapie nach sexuellem Missbrauch zahlt, wenn die Tat lange
zurückliegt und nicht schwarz auf weiß nachzuweisen ist. Deshalb
würde auch das Opferentschädigungsgesetz im Moment schwer greifen. Es
ist auf Taten wie ausgeschlagene Zähne nach einer Prügelei
ausgerichtet, nicht auf schlummernde seelische Wunden aus der
Vergangenheit, die Kindern und Jugendlichen oft von engen Vertrauten
zugefügt wurden. Und werden. Die Reform des Gesetzes sei bisher
leider ausgeblieben, sagt Rörig.

Für Betroffene, die sich bis zum 19. November zu einem
Mitsprache-Kongress in Berlin treffen, ist das finanzielle Gezerre
unverständlich bis unerträglich. Es herrscht die Angst vor, dass neue
Antragsteller keine Chance mehr auf finanzielle Unterstützung für
Therapien haben - oder Hilfen wie «Lappes».

«Natürlich gibt es Befürchtungen, dass die Gelder nicht ausreichen»
,
sagt Kerstin Claus, die heute Mitglied im 15-köpfigen Betroffenenrat
beim Missbrauchsbeauftragten ist. «Und die Art und Weise, wie sich
die Mehrheit der Bundesländer hier aus der Verantwortung stiehlt, ist
in unseren Augen unsäglich.» Sie fürchtet jetzt schon, dass die
Leistungen zurückgehen. Sie bekam für Training, Anschaffung und
Futter für ihren Assistenzhund noch das Maximum von 10 000 Euro
bewilligt.

Ihr Studium gehört zur beruflichen Rehabilitation. Später will sie
als Organisationsberaterin arbeiten. Sie möchte einmal jenen Menschen
helfen, die sich im Dschungel der Zuständigkeiten der deutschen
Behörden verloren haben - und denen anders als ihr der feste Rückhalt
am Partner oder ein finanzielles Polster fehlen, um sich zu wehren
und Hilfe einzufordern.

«Wenn die Länder sich nicht bewegen, muss der Bund in Vorlage gehen»,

fordert Rörig. Das schließt das Familienministerium für die Zukunft
nicht aus. Doch darüber entscheidet nicht das Ministerium, das
Parlament beschließt den Haushalt. Und das kann dauern.

Bereits jetzt warten Missbrauchsopfer nach einem Antrag bis zu 15
Monate auf die Bewilligung von Hilfen. «Allein das ist ein
unerträglicher Rückstau», kritisierte Rörig. Er hält drei Monate
für
angemessen. «Aber nach drei Monaten bekommen Betroffene heute gerade
mal eine Eingangsbestätigung.»

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