Wer einen Penis hat, ist nicht automatisch ein Mann Von Laura Lewandowski und Kay Nietfeld , dpa

Nicht Mann, nicht Frau - dazwischen: Über Transgender wird viel
gesprochen. So viel, dass Transgender fast wie Trend klingt. Doch wie
oft kommen wir Transmenschen wirklich nahe? Der Fotograf Joseph
Wolfgang Ohlert tut es. Grund genug für einen Besuch.

Berlin (dpa) - Durch seine Kamera will Joseph Wolfgang Ohlert den
Menschen sehen, wie er ist. Mann. Frau. Irgendwas dazwischen. Klick.
Wimpernschlag. Klick, klick. Die dürren Schultern des Models kippen
nach vorne. «Kopf bisschen seitlich», ruft der Fotograf. Die
silbergraue Mähne seines Gegenüber fällt locker auf das
Schlüsselbein. Shot. Frauen aus Hochglanzmagazinen könnten es nicht
besser. Posieren. Ohlert ist zufrieden. Wie immer, wenn er das Gefühl
hat, dass seine Fotos die Identität eines Menschen widerspiegeln.
Auch Julian Fricker gefällt sich auf dem Bild.

«Du bist, wer du bist, und so fotografiere ich dich», sagt der
25-jährige Ohlert. Drag Queen Fricker, der als Shiaz Legz auftritt,
sitzt auf einem roten Sessel in der Berliner Wohnung des
Fotografen:nackte behaarte Beine, roter Lippenstift und Perücke.

Ohlert porträtierte schon Menschen in vielen Teilen der Welt. Paris,
New York, San Francisco. Das Resultat nach rund zwei Jahren Arbeit:
293 Seiten, etwa 80 Fotos und ein Buch im Selbstverlag mit dem Titel:
«Gender as a Spectrum», auf Deutsch: Geschlecht als Spektrum. Soll
heißen, in den unterschiedlichsten Facetten.

Das Buch zeigt Persönlichkeiten, die sich mit sich selbst
auseinandergesetzt haben und feststellten: Meine Genitalien sagen
wenig darüber aus, als was ich mich fühle. Es ist ein Buch über
Transgender. Über Leute, die jenseits der klassischen Zweiteilung in
Mann und Frau leben. «Nur weil du einen Schwanz hast, bist du nicht
automatisch ein Mann», beschreibt Ohlert seine Erfahrung.

WER BIN ICH EIGENTLICH?

Und damit wären wir bei der Frage, die sich der Fotograf auch schon
mit Blick auf sich stellte: Wer bin ich eigentlich? Was unterscheidet
einen Mann von einer Frau? Abgesehen von den biologischen Merkmalen
wie dem Y-Chromosom, das Mann in sich trägt und Frau nicht. Ohlert
interessiert sich dafür, inwieweit sich die Gesellschaft mit der
gefühlten Identität auseinandergesetzt hat, mit der Vielfalt von
Selbstbildern.

Klar, ganz neu ist das Thema Transgender nicht. Im Gegenteil,
manchmal wirkt es schon wie ein Modethema. Nach Jahrzehnten mit
Debatten über Frauenemanzipation, über mehr Rechte für Schwule und
Lesben. Nach dem Verschieben von Tabu-Grenzen, mehr Offenheit,
zumindest in Teilen der Gesellschaft - nun eben Transgender.

Doch wie nahe kommen sich die Leute aus verschiedenen Lebenswelten
wirklich? Miteinander zu sprechen und offen Fragen zu stellen, das
scheint für viele so schwer wie immer. «Ich glaube, das Grundproblem,
das Leute immer noch haben, ist die Denkweise: Genitalien bestimmen
dein Geschlecht», sagt Kaey.

1979 geboren als Dennis Klein, mit einem Penis. Kaey sieht sich
selbst als Frau, sie liebt Männer. Trans eben. In Berlin arbeitet sie
als Redakteurin beim «Siegessäule Magazin» - einer Zeitschrift aus
der sogenannten Queer-Szene, der Szene der Schwulen, Lesben,
Bisexuellen und Transgender. Wobei Transmenschen sich - anders als
die Erstgenannten - eben nicht darüber definieren, wen sie lieben.
Sondern über ihr Gefühl im eigenen Körper, ihre Geschlechtsidentitä
t.


Die 37-jährige Kaey interviewte die Porträtierten für Ohlerts Buch.
Das Ziel der beiden: den weniger bekannten Betroffenen eine Stimme zu
geben. Und sicher auch sich selbst weiter auf die Spur zu kommen.

KEINE SICHEREN ZAHLEN ÜBER TRANSMENSCHEN

Verlässliche Zahlen über Transmenschen in Deutschland lassen sich
nicht finden. Sind es Zehntausende, über 100 000, noch deutlich mehr?
Viele lebten einfach damit, akzeptierten die Tatsache, dass Brüste
Teil ihrer Männlichkeit seien, sagt Kaey. Oder dass Barthaare zu
ihrem weiblichen Dasein gehören. Sie gehen zu keinem Arzt, tauchen in
keiner Statistik auf. Doch manchmal sei der Leidensdruck zu groß, ja
unerträglich. Als Lösung nehmen Transsexuelle dann große Operationen

in den Blick.

Im Jahr 2014, so zählte das Statistische Bundesamt, legten sich 1051
Menschen auf den OP-Tisch, um ihre Genitalien angleichen zu lassen.
Die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und
Ästethischen Chirurgen berichtet, zwei Drittel davon seien
biologische Männer gewesen.

Diesen chirurgischen Schritt will Kaey nicht gehen. Der Eingriff sei
zu schwer, das Risiko, dass etwas schiefgeht, zu hoch. Außerdem sagt
sie: «Ich persönlich fühle mich immer als Frau, trotz Penis.» Trotz

1,90 Meter Körpergröße, trotz tiefer Stimme.

KAEY SPART AUF BRÜSTE

Auf Brüste spart Kaey dennoch. Die Hormone, die sie von 2011 an zwei
Jahre nahm, hätten nicht viel gebracht. So einen Versuch der
Anpassung mit Hormonen starten hierzulande wohl weniger als 500
Männer und Frauen pro Jahr neu, schätzen Experten der Deutschen
Gesellschaft für Endokrinologie. Wirklich sichere Zahlen für
begonnene Hormonbehandlungen gebe es aber nicht. Die Dunkelziffer
könnte höher liegen.

Einem Transmenschen zu begegnen, ist folglich stets möglich. Ihn als
diesen zu erkennen, allerdings nicht immer leicht.

Denn viele haben weiter Angst. Vor Ausgrenzung, Nachteilen im Job,
Verfolgung, sogar vor Gewalt, weil sie sind, wie sie sind. Eine große
Online-Studie der EU-Grundrechte-Agentur FRA unter Homosexuellen und
Transmenschen ergab 2013/2014, dass ein Drittel der befragten
Transgender sich nicht auffällig kleidet - aus Selbstschutz, um nicht
beleidigt oder angegriffen zu werden. Die Hälfte der Betroffenen
meidet aus dem gleichen Grund bestimmte Orte.

Wie kann das weiter sein? In Europa. In Zeiten, in denen man auf
Facebook in seinem Profil neben «männlich» oder «weiblich» auch e
in
«benutzerdefiniertes» Geschlecht eintragen kann? Zeiten, in denen in
Sachen Akzeptanz nach außen hin vieles so fortschrittlich ausschaut,
etwa in Statements von Politikern? In New York etwa soll es ab 2017
nur noch Unisex-Toiletten an öffentlichen Orten geben. Ähnlich auf
Malta: Die Regierung des katholisch geprägten Mittelmeerstaates
führte diese kürzlich in den Ministerien ein. Dann sei Schluss mit
der Frage, welche Toilette die «richtige» sei, hieß es.

MODE UND KULTUR FEIERN DAS THEMA

Selbst im US-Militär dürfen Transgender ihre Identität zeigen und
2017 auch offiziell damit eintreten - früher ein Ausschlusskriterium.
Kanada will mit Gesetzesänderungen die Rechte der Transmenschen
stärken. Vietnam hebt ein Verbot von geschlechtsangleichenden
Operationen zu Beginn des nächsten Jahres auf.

In Kultur, Mode und Pop scheint das frühere Tabu-Thema sogar angesagt
zu sein. US-Präsident Barack Obama erklärte die New Yorker
Schwulen-Bar «Stonewall Inn» zu einem Nationaldenkmal: Die Kneipe
stehe für die Geschichte des Kampfes für die Rechte von Schwulen,
Lesben, Bisexuellen und Transgendern.

Israel suchte 2016 erstmals die schönste Transgender-Frau. Unter den
Anwärterinnen: Araberinnen und ein früheres Mitglied ultra-orthodoxer
Juden. Das australische Topmodel Andreja Pejic, geboren im heutigen
Bosnien-Herzegowina, läuft auf internationalen Laufstegen. Auch sie:
Transfrau, alter Vorname Andrej. Pejic ist nur eine von mehreren
Models außerhalb des Schubladendenkens. In Deutschland etwa hob das
Fitnessblatt «Men's Health» 2016 den Transmann Benjamin Melzer auf
ein Abo-Cover.

Und dann gibt es noch Kino, Fernsehen und Internet, wo das Thema
Transgender boomt - etwa in Reality-Formaten wie «I am Cait» um
Superstar Caitlyn Jenner (66). Einst bekannt als Olympiasieger im
Zehnkampf und Stiefvater von Trash-Königin Kim Kardashian (35),
zeigte sie sich 2015 im Magazin «Vanity Fair» als Frau. Beim
Online-Riesen Amazon wird die US-Serie «Transparent» (Video on
Demand) produziert, eine Familiengeschichte über eine Transsexuelle.
Seit 2014 ein Dauerbrenner mit großer Fangemeinde. Genderfragen,
Fragen des gefühlten Geschlechts, werden so unterhaltsam verpackt.
Bildung am Bildschirm. Aber oft auch nur dort.

Denn sobald die Nähe kommt, kommt häufig die Unsicherheit. Wie
verhält man sich dem anderen gegenüber, bei dem man nicht sicher
sagen kann, ob «sie» oder «er» dort steht? «Selbst die gut Gestim
mten
trauen sich oft nicht, darüber zu reden. Weil sie Angst haben, ins
Fettnäpfchen zu treten», sagt Fotograf Ohlert. Seine Haare trägt er
mal blau gefärbt, die Fingernägel blau lackiert. Beim nächsten Mal
ist die Mähne abrasiert. Auch er wusste über Transgender nicht immer
so viel wie heute.

Aktuell sagt er: «Ich bin schwul.» Die Wände in seiner Wohnung sind
übersät mit Bildern von Männern mit entblößten Hintern oder dicke
n
Bäuchen, mit femininen Zügen oder stählernen Muskeln.

«ICH GEHÖRE NICHT ZU DENEN»

Sein auffälliges Äußeres, seine sexuelle Orientierung, das
Künstlerdasein - diese Dinge haben bewirkt, dass Ohlert häufig
nachdachte über die Ausgrenzung von Minderheiten. Trotzdem - oder
gerade deshalb - versteht er, dass die Begegnung mit einem
Transmenschen befremdlich sein kann.

«Weil ich selbst früher so war.» Er habe zu denen gehört, die sagte
n:
«Ich bin stolz darauf, schwul zu sein. Ich gehöre nicht zu denen.»
Eine selbstgeschaffene Distanz, die in Ablehnung mündet - Ergebnis
einer Angst, etwas nicht zuordnen zu können, so erklärt es sich
Ohlert. «Die Leute fühlen sich in ihrer Komfortzone gestört.»

Bei Dating-Portalen zelebrierten auch homosexuelle Männer das alte
Männlichkeitsbild und bildeten neue Randgruppen, beobachtet er. In
ihren Profilen stehen klare Ansagen wie «no fems» - was so viel
heißt: Feminine Männer, tschüss.

Nach Dutzenden Porträts und noch viel mehr Bekanntschaften mit
Transmenschen fragt Ohlert heute Sachen wie «Warum willst du mit
entscheiden, welches Geschlecht der andere hat?». Und: «Warum fühlst

du dich angegriffen, wenn jemand sein Geschlecht selbst bestimmen
will?»

Früher habe auch er oft nicht gewusst, wie er die Menschen ansprechen
sollte. Es gebe so viele Barrieren, alleine im sprachlichen Bereich.
Doch man müsse sich einfach auf die Leute einlassen. Das könne mit
der simplen Frage beginnen: «Wie möchtest du angesprochen werden? Das
sagt alles. Das ist respektvoll.»

Im Gegenzug sei aber auch von seinem Gegenüber Respekt zu erwarten,
nicht zuletzt vor allem Verständnis. Auch Ohlert weiß: «Diese ganze
Gender-Sache ist so kompliziert.»

Transfrau Kaey ist trotzdem sicher: Die Debatte um Genderidentität zu
verstehen, lohne sich für alle. Es gehe dabei weniger um klare
Zuordnungen in Gruppen. Und auch nicht nur um Körperbilder. In der
der Gender-Debatte solle etwas anderes im Zentrum stehen: Toleranz.
«Das ist nicht nur ein Transthema, sondern ein universelles Thema.
Das hat was mit Feminismus zu tun, mit Rassismus», sagt Transfrau
Kaey. Unterm Strich, jeden so zu sehen und zu mögen, wie er ist.