Der Pinguin Koch und die harten Seiten seines Sports Von Marc Zeilhofer, Christian Kunz und Frank Rumpenhorst , dpa

Zehntausende Trainingskilometer, frühes Aufstehen, wenig Star-Rummel.
Brustschwimmer Marco Koch hat das Zeug zum Olympiasieger. Doch sein
Sport kämpft mit Image-Problemen. Auch im Alltag: Weniger Kinder
lernen schwimmen, die Zahl der Badetoten steigt.

Darmstadt (dpa) - Wer etwas von Freud und Leid des deutschen
Schwimmens erfahren will, kann bei einem Besuch im Darmstädter
Nordbad viel entdecken. Dort, wo die Welt am Beckenrand noch ein
wenig heiler scheint als anderswo, altmodischer vielleicht. In
Wurfweite eines Vereinskiosks mit familienfreundlich niedrigen
Preisen für Snacks und Eis am Stiel sind Weltspitze und gemächliche,
ältere Freizeitschwimmer im Wasser nur durch eine gelbe Leine
getrennt. Marco Koch trainiert hier. In der hessischen
150 000-Einwohner-Stadt. Unter Bedingungen, über die manch anderer
Topathlet in einem modernen Leistungszentrum die Nase rümpfen würde.

Die benachbarte Schwimmhalle als renovierungsbedürftig zu
beschreiben, ist nicht nur angesichts manch blinder Scheibe eine
Untertreibung. Immerhin besitzt das Außenbecken einen schicken,
blanken Stahlboden.

Retro sind dagegen die Startblöcke aus den 1980ern. Im Kraftraum
stehen anstelle von Hightech-Geräten einfache Langhanteln bereit.
«Die Bedingungen sind für den Hochleistungssport nicht perfekt, aber
das kann einen auch weiterbringen», sagt Koch und grinst: «Wenn man
aus Darmstadt kommt, kommt man überall zurecht.»

Ob andere Spitzensportler zu verwöhnt sind? «Das könnte sein»,
antwortet der 26-Jährige und kann sich ein Grinsen schon wieder nicht
ganz verkneifen. Gut erzogen, wie er ist, schiebt Koch rasch nach, er
könne da nur für sich sprechen.

Der Weltmeister über 200 Meter Brust ist die größte Goldhoffnung der

deutschen Schwimmer bei den Olympischen Spielen. Sie werden am 5.
August in Rio de Janeiro eröffnet.

Kochs Weg nach ganz oben war alles andere als leicht und
vorgezeichnet. Vielmehr oft mühsam. Gerade deshalb lohnt ein
genauerer Blick in Kochs Welt, um eine scheinbar paradoxe Situation
des Schwimmens in Deutschland begreifbarer zu machen: Eine der
reichsten Nationen will einerseits zu den führenden Olympia-Ländern
gehören. Gleichzeitig lernen weniger Kinder schwimmen. Und die Zahl
der tödlichen Badeunfälle steigt seit Jahren - trotz rund 2500
Schwimmvereinen in Deutschland.

«Das ist natürlich traurig», sagt Koch. Aber er kann auch kleine
Dinge würdigen. Er sei froh, jeden Morgen auf den Nebenbahnen
Schulklassen zu sehen.

Dass Sport-Ass Koch in dem öffentlichen Bad fast unbehelligt bleibt,
hat Gründe. Einerseits sind Schwimmer hierzulande schon lange keine
Stars mehr wie eine Franziska van Almsick (38), die sich auch nach
dem Karriereende in den Gesellschaftsspalten der Medien findet. Und
dann ist da die Optik: Wenn Schwimmbadbesucher Koch in Badehose
sehen, kommt ihnen nicht sofort der Gedanke, den wohl weltbesten
Brustschwimmer vor sich zu haben.

EINE ART PINGUINFORM

Andere Schwimmer wirken athletischer, die Muskulatur ist erkennbarer,
definierter. Koch hat einen weichen, fast fließenden Körperbau, der
Uneingeweihten nicht austrainiert erscheinen mag. «Eine Art
Pinguinform, sehr weiche Haut, sehr außergewöhnlich, kein Schwabbel»,

erläutert Heimtrainer Alexander Kreisel, der Koch seit 14 Jahren
betreut. Diese Körperkondition verhilft Koch unter Wasser zum besten
Gleiten überhaupt.

Optimale Körpereigenschaften sind aber nur das eine: Bis zum
potenziellen Olympiasieger musste Kreisels Schüler mehrere
Zehntausend Trainingskilometer im Wasser zurücklegen. Und darin liegt
ein Hauptproblem, wenn es um Nachwuchsmangel geht. Nicht nur für den
Deutschen Schwimm-Verband (DSV), sondern auch für weite Teile des
Spitzensports hierzulande. Für viele Kids ist der klassische
Wettkampf nach intensiver Vorbereitung weder sexy noch zeitgemäß.

Als finanziell oder wenigstens ideell lohnend wird Leistungssport
außerhalb etwa des lukrativen Profifußballs oder von Tennis schon
lange nicht mehr auf breiter Front wahrgenommen. Das liegt nicht nur
an den wuchernden Doping-Problemen. Die Gründe für den häufig
schweren Stand des Sports sind vielfältig, mögliche Lösungen weniger.


MAMA UND DER MIKROKOSMOS DARMSTADT

Ohne familiäre Hilfe, menschliche und finanzielle, wäre der Weg
vieler hoffnungsvoller Nachwuchsschwimmer schnell zu Ende. Marco
Kochs alleinerziehende Mutter fuhr ihren Sohn aus dem Odenwald 40 000
Kilometer pro Jahr nach Darmstadt zum Training. Die zwei schreckten
auch die harten Trainingszeiten lange vor dem Frühstück einer
Normalfamilie nicht.

Unterhalt habe der Vater nicht gezahlt, erzählt Koch. Erst später zog
die Familie um. «Wie viel sie geopfert hat, wird einem erst Jahre
später richtig bewusst», sagt Koch. Sein enges Umfeld bedeutet ihm
viel. Er weiß, was er den drei wichtigsten Menschen dort zu verdanken
hat.

Die Mutter muss ihn heute nicht mehr fahren, stattdessen achtet sie
mit auf seine Ernährung. Seine Freundin Reeva ist selbst aktive
Schwimmerin, startet für den Verein DSW 1912 Darmstadt bei deutschen
Meisterschaften über Freistilstrecken. Nebenbei kümmert sie sich um
Marcos Facebook-Auftritt. Einen Manager hat und braucht Koch nicht -
eine Ausnahme selbst unter weit weniger erfolgreichen Sportlern.

Der Fernstudent der Wirtschaftspsychologie kann inzwischen vom
Schwimmen leben. «Momentan komme ich ganz gut zurecht», sagt Koch.
Anders als andere deutsche Schwimmer bestreitet er viele Wettkämpfe,
so auch fast alle der lukrativen Weltcup-Stationen. Daher wird Koch
nach seinem Olympia-Rennen am 10. August nicht weitere Sport-Events
in Rio anschauen, sondern zurück nach Europa fliegen. Pro Rennen gibt
es ein paar Tausend Euro zu verdienen, die gesamte Serie ist mit
einer Million Euro dotiert.

Im Geld baden kann Koch aber nicht: «Es ist jetzt nicht so, dass ich
mit 30 Jahren sage, fein, jetzt spiele ich nur noch Golf.»

TRAINER - KEIN TRAUMBERUF 

Reich wird Kochs langjähriger Trainer Alexander Kreisel erst recht
nicht. «Wenn meine Frau nicht arbeiten würde, könnte ich den Job auch

nicht machen, um meine Familie zu ernähren. Das allein würde nicht
reichen», erzählte der zweifache Familienvater bei der
Europameisterschaft im Mai in London. «Man erfreut sich an den
Erfolgen der Sportler.»

Zwei Monate später an einem kühlen Juli-Abend in Darmstadt muss sich
Kreisel - anders als Trainer an einem Bundesstützpunkt für den
Leistungssport - nicht nur um die Spitzenathleten kümmern. Neben Koch
betreut er knapp 30 Vereinsschwimmer. Nicht selten fühlt sich Kreisel
zwischen Vereinsinteressen, den Wünschen des Nachwuchses dort und der
Betreuung von Deutschlands Gold-Kandidaten zerrissen: «Das kann sehr
aufreibend sein.»

Generell hat der hiesige Leistungssport abseits des Fußballs ein
Trainerproblem. Die überschaubare Entlohnung dürfte so manchen
Kandidaten abschrecken. Die Zahlen qualifizierter Trainer als
Hochschulabsolventen sind rückläufig. Im Ausland ist dieser Beruf
teils anerkannter und deutlich besser bezahlt. In der Schwimm-Nation
USA etwa ist der Trainer von Rekord-Olympiasieger Michael Phelps, Bob
Bowman, ein allseits respektiertes Sprachrohr.

Schwimmen lockt dort die Massen. Allein die Vorläufe der
Olympia-Qualifikationen besuchten vormittags 14 000 Zuschauer in der
ausverkauften Halle in Omaha. Bei den deutschen Meisterschaften
kommen neben Eltern und Vereinskollegen fast nur Experten.

NACHWUCHS IM STRESS 

Kochs Weg in die Weltelite war geprägt vom familiären Einsatz. In der
Regel entwickelt sich der Aufstieg in die Spitze in Deutschland zum
Spagat zwischen Ausbildung und Sport. Wobei die vielerorts verkürzte
Schulzeit Teil des Problems wurde. Bei acht statt neun Jahren bis zum
Abitur - da ist schon von Schülern ohne hohes Trainingspensum für
eine Sportlerkarriere Einsatz gefragt. Wenn die Jungs und Mädchen
regelmäßig trainieren wollen, bedarf es anderer Lösungen:
Die hoffnungsvollsten Schwimm-Talente stammen meist aus den
bundesweit 43 Eliteschulen des Sports.

So etwa der 17-jährige Johannes Hintze. Er ist der jüngste deutsche
Olympia-Schwimmer seit rund 40 Jahren und lobt seine Schule in
Potsdam in den höchsten Tönen.

«Ich profitiere davon, dass sich der Abiturzeitraum über vier Jahre
streckt und dass Lehrer mit ins Trainingslager geschickt werden
können», sagt Hintze. Über die 400 Meter Lagen wird zu Beginn der
olympischen Schwimm-Wettbewerbe (6. August) neben Hintze auch der
21-jährige Jacob Heidtmann starten.

Der WM-Fünfte zog 2012 als Minderjähriger von Elmshorn in
Schleswig-Holstein in das Hamburger Sportinternat. Auf der
angelagerten Eliteschule des Sports am Alten Teichweg machte
Heidtmann zwei Jahre später sein Abitur. Teils über 70 Stunden pro
Woche muss der Nachwuchs in Schule und Leistungssport investieren -
da steigen einige aus.

DIE EINE-MILLION-EURO-IDEE

Henning Lambertz ist Chefbundestrainer der deutschen Schwimmer und
brachte vor Jahresfrist eine plakative Summe ins Spiel, um den
Leistungssport wieder attraktiver zu machen: Eine Million Euro solle
jeder Olympiasieger bekommen. «Das ist möglich, ist nur die Frage:
Wollen wir das? Es ist gar kein Problem, sich das finanziell leisten
zu können», sagt Lambertz und verweist auf höhere Prämien oder gar

Renten für Olympiasieger im Ausland. In Deutschland zahlt die
Sporthilfe 20 000 Euro für Gold (siehe Hintergrund). Die Resonanz auf
Lambertz' Vorschlag war unter Sportlern oder Trainern meist positiv.

Franziska van Almsick gewann 1992 als 14-Jährige ihre erste von
insgesamt zehn Olympia-Medaillen. Für das Mitglied im Aufsichtsrat
der Deutschen Sporthilfe kann Geld nicht alleinige Motivation sein.
«Vielleicht gibt es im Moment die Tendenz, dass viele viel erreichen
wollen, aber ohne großen Aufwand. Und schinden wollen sie sich auch
nicht. Das Leben soll ja schließlich Spaß machen. Was das
Gesellschaftspolitische angeht, da haben wir noch ganz viel Arbeit
vor uns», sagt die zweifache Mutter.

Diese Tendenz hat auch das 69 Jahre alte Trainer-Urgestein Norbert
Warnatzsch ausgemacht. «Die Kinder huldigen heutzutage dem Sport
nicht mehr so, wie das vor Jahrzehnten war. Heute gibt es so viele
andere Interessensgebiete», sagt der Ex-Coach von Olympiasiegerin
Britta Steffen (32).

SCHWIMMEN KÖNNEN - EINE FRAGE DES ÜBERLEBENS 

Bei aller Diskussion um Nachwuchskonzepte, Motivation oder den
gesellschaftlichen Stellenwert: Schwimmen ist eine Sportart, die im
Alltag über Leben und Tod entscheiden kann. 2015 ertranken nach
Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) mindestens
488 Menschen, deutlich mehr als im Vorjahr. Das war der höchste Stand
seit neun Jahren. Unter den Badetoten: 25 Kinder. Jedes zweite Kind,
das die Grundschule verlässt, könne nicht schwimmen, warnt die DLRG.

Nicht nur für Franziska van Almsick besteht dringender
Handlungsbedarf: «Man muss es in naher Zukunft politisch einfordern,
Schwimmunterricht wieder fest in den Schulsport zu integrieren.
Schwimmen ist lebensrettend. Wer nicht schwimmen kann, kann
ertrinken», sagt sie. Neben van Almsicks Stiftung kümmert sich nun
auch der Schwimm-Verband - unterstützt vom Disney-Konzern - darum,
wieder mehr Familien mit Kindern fürs Schwimmen zu begeistern.

Olympia-Teilnehmer Johannes Hintze findet das wichtig: «Damit weniger
Unfälle passieren. Da werde ich bei meinen eigenen Kindern einmal
großen Wert drauf legen.» Und Weltmeister Marco Koch guckt gerne hin,
wenn auf der Bahn neben ihm Darmstädter Schulklassen das Einmaleins
des Schwimmens lernen: «Das macht mich glücklich, dass es hier in
Darmstadt zumindest noch halbwegs funktioniert.» Dieses Stück heile
Welt im Nordbad ist abends für Kinder bereits für einen Euro Eintritt
mitzuerleben.