Happy End im Hörsaal? - Wie Unis Flüchtlinge fürs Studium fit machen Von Werner Herpell und Gregor Fischer/Paul Zinken , dpa

Die «Willkommenskultur» steht in Deutschland nach einer neuen Studie
vor dem Ende. Auf die Hochschulen trifft das nicht zu. Dort wird viel
dafür getan, dass Flüchtlinge ein Studium aufnehmen können. Doch der

Weg in die Hörsäle ist mühsam. Ein Ortstermin an der FU Berlin.

Berlin (dpa) - Es sind Menschen wie Hannelore Harmsen und Mahmoud
Almizel, die die komplizierte Sache mit den vielen Flüchtlingen in
Deutschland ganz unkompliziert hinkriegen. Der Exodus aus den Kriegs-
und Krisenregionen hat die deutsche Lehrerin und den syrischen
Abiturienten im Seminarraum L229 der Freien Universität Berlin (FU)
im südlichen Ortsteil Lankwitz zusammengeführt.

Ihr entspanntes Lehrer-Schüler-Verhältnis ist nur ein positives
Beispiel unter vielen an den deutschen Hochschulen. Denn es gibt
Tausende Geflüchtete, die sich derzeit hier aufs Studieren an einer
Uni vorbereiten - und dafür bei allem Bildungshintergrund, Fleiß und
guten Willen fachkundige Hilfe brauchen.

Harmsen (64) hat ihre aktive Zeit als Lehrerin eigentlich hinter
sich, die Studienrätin für Mathematik und Physik ist seit dem
November pensioniert. Aber an diesem sonnigen Montag paukt die so
freundliche wie resolute Frau als Dozentin am FU-Studienkolleg mit
einem knappen Dutzend junger Männer und Frauen aus Syrien und dem
Iran Partialbruchzerlegungen und Wurzelfunktionen.

Almizel (18) meldet sich eifrig im Unterricht - und träumt insgeheim
von einem Medizinstudium. Vor neun Monaten kam er nach einer
risikoreichen Schlauchboot-Flucht über Griechenland und die
Balkanroute in Berlin an. In Damaskus hatte er voriges Jahr ein
Abitur mit der Note 1,4 gemacht, weiß aber, dass das für ein
Numerus-Clausus-Fach wie Medizin hier nicht reichen wird. Nach
weiteren Deutsch- und Mathe-Kursen möchte er im Sommersemester 2017
Maschinenbau studieren, später auf Medizintechnik umsteigen.

Die Stimmung im Lankwitzer Klassenraum des Vorbereitungskurses für
studierwillige Flüchtlinge ist gut. Es wird konzentriert gearbeitet,
gegrübelt und zwischendurch gelacht. Die Studenten in spe, darunter
zwei syrische Frauen, sprechen konsequent Deutsch - meist erstaunlich
gut nach nur wenigen Monaten Aufenthalt. «Alles klar, prima», «Supe
r
gemacht», aber auch «So geht's nicht» - Hannelore Harmsen lobt,
korrigiert, motiviert. Extra langsam spricht sie nicht. Die
Flüchtlinge sollen sich auch in ihrer Mathe-Klasse anstrengen,
Deutsch auf Alltagsniveau lernen.

Die Lehrerin aus Leidenschaft ist begeistert von den Schülern, die
sie seit Anfang April betreut. «Es macht viel Spaß mit ihnen», sagt
Harmsen. Sie ist überzeugt: «Die meisten werden im Laufe des nächsten

Jahres hier studieren.» Dass dies mehr als ein normaler Kurs mit
ziemlich talentierten Mathe-Schülern ist, spürt die aus Kiel
stammende Frau selten - sie fragt ganz bewusst nicht andauernd nach
den sehr persönlichen Fluchtschicksalen.

Eines davon hat Leen* hinter sich, die aus der Bürgerkriegshölle
Aleppo entkam. Die deutsche Gegenwart der 30-Jährigen besteht aus
Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft - und ständiger Angst um
Ehemann und Tochter. Beide sind noch in der zerstörten Heimat und
wollen nachkommen. In Syrien hatte Leen Mathematik fast zu Ende
studiert, sie braucht in Deutschland fürs Lehramt aber nun ein
zweites Fach. «Es ist sehr schwer, wieder ganz neu anzufangen - ich
bin ja nicht mehr so jung», sagt sie. «Aber ich sehe die Zukunft
Syriens zu schwarz. Es ist furchtbar dort.»

Fluchterinnerungen und Sorgen um die Familie sind für mehrere
Kursteilnehmer eine schwere Last im Alltag. Hinzu kommen Ärger mit
der deutschen Asyl- und Hochschulbürokratie, die teilweise schwierige
Wohnsituation und immer wieder Sprachkurse. «Aber stressbedingten
Streit habe ich in meiner Klasse noch nicht erlebt, alle gehen extrem
nett miteinander um», sagt Harmsen. Sie will ab Herbst weitere
Mathematik-Kurse für die FU geben - auch aus grundsätzlicher
Überzeugung: «Wir leben hier doch auf der Sonnenseite und haben jetzt
die Verpflichtung, etwas abzugeben.»

Harmsens Satz fällt in einer Zeit stark sinkender Begeisterung für
das Projekt «Willkommenskultur» in Deutschland, wie eine aktuelle
Studie der Uni Bielefeld Anfang Juli zeigt. Doch die Hochschulen
lassen sich davon offensichtlich nicht anstecken.

Unis befreien Flüchtlinge von Gasthörer-Gebühren, ermöglichen ein
Schnupperstudium, vergeben kostenlose Bibliotheksausweise und
Gratis-Internetzugänge. Hinzu kommen «Willkommens-Cafés» und privat
e
Kontaktangebote. In Intensivkursen wird Deutsch gebüffelt, denn ohne
Sprachkompetenz geht nichts im Studium. Überall arbeiten studentische
Mitarbeiter mit Geflüchteten in Lernzentren oder -patenschaften, und
es werden Sprachlern-Tandems oder auf der persönlichen Ebene «Buddys»

vermittelt.

In Berlin hat das FU-Sprachenzentrum diese Aufgaben übernommen, seit
die Universität vor einigen Monaten ein breit angelegtes
Welcome-Programm aus dem Boden stampfte. Also sitzen studentische
Hilfskräfte wie François Peverali, Lena Weißmann, Patrycja Czarniecka

oder Camilo Almendrales an einem Samstagvormittag in ihrem
Konversations-Workshop acht jungen Männern aus Syrien und Eritrea
gegenüber, um auf Deutsch einen Termin bei der Wohnungssuche und ein
WG-Casting zu simulieren.

Die Flüchtlinge sind dankbar für jeden Tipp, denn nach den ersten
Monaten in einer Turnhalle müssen sie sich auf dem engen Berliner
Wohnungsmarkt zurechtfinden. «Ich bin superbeeindruckt von diesen
Leuten», sagt Weißmann. «In nur zehn Monaten eine fremde Sprache so
gut zu lernen... Die werden es auch packen, hier demnächst zu
studieren.» Und Czarniecka sagt einen Satz, der sich aus dem Mund von
Politikern meist viel kühler, oft drohend anhört: «Sprache ist der
Schlüssel, um ein Teil der Gesellschaft zu sein.»

Die Syrer Maher Dhman und Housam Shanan sind nach dem Stress der
Flucht voller Hoffnung, dass sich nach dem Kursraum KL25/201 bald
auch der Uni-Hörsaal für sie öffnet. Oft werden technische und 
naturwissenschaftliche Studiengänge angesteuert - die Sprachhürde ist
hier nicht ganz so hoch wie in den Geisteswissenschaften.

Für Maria Giovanna Tassinari, Leiterin des Selbstlernzentrums der FU,
sind die Anfang 2016 gestarteten Workshops «ein schönes Projekt, bei
dem Eigeninitiative und Engagement Früchte tragen». Wer hierhin
komme, bringe großen Ehrgeiz mit, schnell Deutsch zu lernen, und
könne damit bald fit sein für ein reguläres Studium. Anfangs saßen

zeitweise 20 bis 30 Flüchtlinge in dem Raum, da wurde es eng. Für das
Wintersemester erwartet Tassinari erneut steigendes Interesse von
Geflüchteten mit Studierwunsch.

Das wäre auch Florian Kohstall recht, der das Welcome-Programm der FU
Berlin leitet und fortführen möchte. Es sei nicht immer ganz einfach,
an die neu angekommenen Studieninteressierten heranzukommen, nicht
alle fänden Zugang zu den Info-Angeboten der Uni. «Wir wissen immer
noch relativ wenig über die Bedürfnisse der Flüchtlinge, manche sind

in ihren Unterkünften nur schwer zu erreichen. Wir wollen daher jetzt
noch stärker mit den Wohlfahrtsverbänden ins Gespräch kommen», sagt

Kohstall.

Der 42-Jährige ist Leiter des FU-Verbindungsbüros in Kairo, arbeitet
wegen der neuen Zuständigkeit für das Welcome-Projekt aber derzeit
überwiegend in Berlin. Kohstall sieht hinter der dramatischen
Exodus-Geschichte auch eine seltsame Ironie: «Früher haben wir die
Menschen in der Region für ein Studium in Berlin angeworben, jetzt
kommen viele als Flüchtlinge zu uns.»

Dass gerade der Start an einer deutschen Hochschule oft schwer ist,
erlebt Sarah Hostmann vom FU-Team Studienberatung. Manchmal gebe es
Probleme, weil die fürs Studium nötigen Dokumente fehlen.
«Verzweiflung spürt man, wenn es überraschend bürokratische Hürde
n
gibt. Oft müssen wir auch das Studiensystem an sich erklären und die
Abgrenzung zu den Ausbildungsberufen.» Die 33-Jährige ist «aber
eigentlich erstaunt, wie gut informiert die meisten in unsere
Beratung kommen - und dass sie tatsächlich sehr konkret wissen, was
sie hier an der Uni machen wollen».

Wer bei Hussein Kayed auftaucht, ist noch ganz am Anfang. Der
Lehramtsstudent, selbst palästinensischer Syrer, gibt im Auftrag der
FU Einsteiger-Abende für Flüchtlinge - auf Arabisch. Seine Zuhörer
können kaum Deutsch, es sind «oft Menschen, die noch gar nicht
wissen, wie sie starten sollen». Kayed erklärt ihnen das deutsche
Hochschulwesen, das große Angebot seiner Uni mit 180 Studiengängen
und rund 36 000 Studierenden, er informiert über Bewerbungsfristen,
Sprachkurse und die Chance auf Bafög.

Das Interesse der Flüchtlinge ist auch hier groß. Am Ende zeigt Kayed
Bilder vom FU-Campus, von einem Hörsaal und einer Mensa. Die Augen
leuchten - hier wollen alle schnell hin. Die Hoffnung auf ein Studium
eint die Menschen in diesem schmucklosen Raum.

Der Bauingenieur Joachim Wübbe besucht den Info-Abend als «Pate» von

Marwa Khaled (27), die in Damaskus Psychologie studiert hat. Er
wünscht seinem Schützling nur das Beste, weiß aber auch: «Wenn's gu
t
läuft, kriegt sie zwei Drittel ihrer Abschlüsse hier anerkannt. Es
ist noch ein weiter Weg.»

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