Körperspender - Wenn der Tod dem Leben dient Von Martina Rathke, dpa

Es gibt Menschen, die ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft
spenden. In ihrem Umfeld fehlt es dafür oft an Verständnis. Für die
anatomische Ausbildung sind Körperspenden unverzichtbar. Viele
Institute etwa in Tübingen oder Jena organisieren für die Spender
Trauerfeiern.

Greifswald (dpa) - Was passiert mit dem Körper, wenn ein Mensch
gestorben ist? Sargbegräbnis, Urnenbeisetzung oder eine
Seebestattung? Karl-Heinz Kühne hat einen anderen Weg gewählt. Vor
seinem Tod vermachte der Ingenieur seinen Körper der Wissenschaft.
Greifswalder Medizinstudenten lernen an seinem Leichnam und denen
anderer Toter die Anatomie des Menschen kennen, sie öffnen den
Brustkorb, verfolgen den Verlauf von Blutgefäßen und Nervensträngen,

entnehmen und sezieren Organe.

Das mag befremdlich wirken auf all jene, die sich zu Lebzeiten für
eine Bestattung entscheiden. Befremdlich der Gedanke, als Toter in
einem Präparierkurs auf dem Seziertisch zu liegen, wo es an Intimität
fehlt und stattdessen helles Neonlicht und die Augen fremder Menschen
auf den nackten Körper gerichtet sind. «Tot ist tot», sagt Gudrun
Oestreich, die Frau von Karl-Heinz Kühne. Sie vermisst ihren Mann
beim Aufstehen und Zubettgehen. In jeder Minute so unendlich, dass es
ihr fast das Herz zerreißt. Sie kann noch immer nachts nicht
schlafen, weil er ihr fehlt. Doch zum toten Körper, der mal ihr Mann
gewesen ist, hat sie ein nüchternes Verhältnis. «Ist es besser, wenn

Mäuse an dem Leichnam nagen oder Flammen den Körper verbrennen?»,
antwortet sie all denen, die die Entscheidung, Körperspender zu sein,
nicht verstehen können.

Im Februar 2011 entschieden sich Karl-Heinz Kühne und seine Frau
Gudrun Oestreich, ihre Körper nach dem Tod dem Anatomischen Institut
der Universität Greifswald zur Ausbildung und Forschung zu
hinterlassen. Die Entscheidung war wohlüberlegt. «Wir hatten den
Gedanken, dass wir den Nachmenschen helfen, wenn wir unseren Körper
spenden», erläutert die 80-Jährige die gemeinsamen Beweggründe. 

Zudem gebe es keine Hinterbliebenen, die ein Grab pflegen könnten.
Gudrun und Karl-Heinz besuchten eine Trauerfeier, die jeweils zu
Semesterende von Medizinstudenten für die Körperspender gestaltet
wird. Die Atmosphäre, die Ernsthaftigkeit der Studierenden, haben sie
beeindruckt. «Es war eine ehrliche, würdevolle Feier.» Einen Monat
später beschlossen sie, ihren Körper zu spenden. 

Im Mai 2015 starb Karl-Heinz Kühne an Pankreaskrebs. «Das einzig
Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen»,
lautet ein Spruch, den seine Frau nach dem Tod neben vielen
gemeinsamen Bildern an eine Zimmerwand ihrer Wohnung geheftet hat.

Die Medizinausbildung ist ohne die praktische Ausbildung am
menschlichen Körper undenkbar. An nahezu allen Medizinischen
Fakultäten in Deutschland gehören Kurse im Präpariersaal zum
Grundwerkzeug für angehende Ärzte. «Anatomie muss man begreifen»,
sagt der Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der
Universität Heidelberg, Joachim Kirsch. «Das Studium an den Körpern
ist Lernen mit allen Sinnen.» Die Studierenden lernen durch Tasten,
sie lernen durch Hineinfassen, durch Begreifen. «Das kann keine
virtuelle Anatomie leisten.» Sein Greifswalder Amtskollege, Professor
Karlhans Endlich, sagt: «Der Kurs ist mit Emotionen verbunden und
alles was mit Emotionen verbunden ist, steigert den Lerneffekt.»

Für die meisten Studierenden ist der Anatomiekurs die erste Begegnung
mit dem Tod. Selten sterben die Menschen zu Hause so wie Karl-Heinz
Kühne. Im nüchternen Neonlicht des Präparationstisches wird das
Schicksal des Menschen ausgeblendet. Die Studierenden kennen weder
den Namen des Toten noch dessen Alter. Die Leidensgeschichte des
Menschen erfahren sie, wenn sie die Organe «lesen».

Doch wie geht ein junger Mensch mit dieser Situation um? «Es hilft,
sich in die Strukturen des Körpers zu vertiefen», erzählt der
19-jährige Student Lukas Müller, der im Präparationssaal die erste
Leiche seines Lebens sah. «Am Präparationstisch denkt man weniger
über den Tod als über das Sterben nach», ergänzt der 22-jährige
Zahnmedizin-Student Mike Rudolf Edelmann.  Gegenüber den
Vermächtnisgebern verspüre man Respekt und Dankbarkeit. Viele
Anatomische Institute wie in Tübingen, Gießen, Rostock, Bonn,
Heidelberg, Jena oder Greifswald organisieren Trauerfeiern, in denen
die Studierenden den Körperspendern danken.  

Dem Anatomiekurs zu Beginn des Medizinstudiums haftet - befeuert
durch spannende Krimis und Romane- noch immer der Geruch eines
Initiationsritus an, nach dem Motto:  «Hast du diese schwere Prüfung

bestanden, kannst du Mediziner werden.» Joachim Kirsch gibt seinen
Studierenden, die im Vorklinikum im ersten und zweiten Semester noch
sehr jung sind, etwas anderes auf den Weg. «Der Körperspender, der
vor euch auf dem Tisch liegt, ist euer erster Patient.» An dem Umgang
mit ihm präge sich das spätere Arzt-Patient-Verhältnis und das
richtige Maß von Empathie und rationaler Professionalität.

Im Präpariersaal der Anatomie in Greifswald, wo sich Lukas Müller und
Mike Rudolf Edelmann gemeinsam mit sieben weiteren Kommilitonen über
eine von neun Leichen beugen, ist es nicht ehrfürchtig still. «Diese
leise Stimmung haben wir nur während der ersten Kurse», sagt
Präparatorin Arlette Deutsch. Die Berührungsängste weichen mit der
Beschäftigung am Körper schnell der Faszination für das, was man
bisher nur aus dem Anatomiebuch kannte. Die Studenten diskutieren -
ähnlich wie auf dem Rembrandt-Gemälde «Die Anatomie des Dr. Tulp» -
 
an den Präparationstischen angeregt, was sie dort betrachten und in
die Hand nehmen können. «Ich sehe die Organe in einer
Dreidimensionalität, die ein Buch nicht liefern kann», sagt
Edelmann. 

3D-Computeranimationen und Kunststoffmodelle können die Arbeit am
Körper nicht ersetzen, sind die Studierenden und auch deren
Professoren überzeugt. «Wollen Sie später von einem Arzt operiert
werden, der den menschlichen Körper nur aus Büchern und von Modellen
kennt», fragt Endlich. Dennoch hat in einigen Präpariersälen auch die

virtuelle Anatomie Einzug gehalten. In Heidelberg wird beispielsweise
von jedem Körperspender ein Ganzkörper-CT gemacht, welches im
Präpariersaal hängt und an dem Studenten vergleichen können. «Das i
st
eine Heidelberger Spezialität, dass direkte Anschauung und Bildgebung
miteinander gekoppelt werden», sagt Institutsdirektor Joachim Kirsch.

Die Bereitschaft zu Körperspenden ist in Deutschland größer als die
Nachfrage in den Anatomischen Instituten. «Wir mussten deshalb den
Radius für Vermächtnisgeber auf 20 Kilometer um Greifswald
einschränken», sagt Karlhans Endlich. Auch andere Institute in
Deutschland verfahren so und haben den Einzugsradius begrenzt oder
zeitweise - wie Jena seit 2007 - keine neuen
Körperspenden-Vereinbarungen abgeschlossen. 

Im Jahr 2004 fiel das Sterbegeld der gesetzlichen Krankenkassen als
Zuschuss zu den Bestattungskosten weg. Viele Anatomische Institute -
wie in Greifswald - erheben seitdem eine Aufwandsentschädigung, um
Unkosten zu begleichen, die mit der Erstellung des Totenscheins, dem
Transport und der Beisetzung entstehen. Sie kann je nach Institut
zwischen 500 und 1200 Euro liegen und ist damit aber noch immer
deutlich niedriger als die Bestattungskosten von rund 6000 Euro.
Dennoch ist aus Sicht der Mediziner der Wunsch nach einer «billigen
Beerdigung» nicht die Hauptmotivation für Körperspender. Die Gründe

seinen Körper der Wissenschaft zu vermachen, seien multifaktoriell,
sagt Anatomieprofessor Endlich.

Einer Umfrage unter Körperspendern an der Uni Ulm Anfang der 2000er
Jahre zufolge gaben rund 80 Prozent altruistische Gründe an. «Der
überwiegende Teil will der Wissenschaft helfen, vielleicht weil man
selber krank war oder im Familienkreis eine Leidensgeschichte
miterlebt hat», erklärt sein Kollege Kirsch. Zu 15 Prozent gaben
Körperspender an, dass man  - ohne Angehörige finanziell und
organisatorisch zu belasten - unter die Erde kommen wolle. Ein
kleiner Prozentsatz wolle mit seiner Körperspende, dass seine Leiche
vernichtet werde, sagt Kirsch. Doch etwas bleibt: Erinnerungen der
Angehörigen - wenn es sie gibt. Dankbarkeit der Studenten. Und auch
die sterblichen Überreste des Körperspenders.

«Spuren im Sand verwehen, Spuren im Herzen bleiben» unter dieses
Motto haben die Greifswalder Studierenden ihre diesjährige
Trauerfeier für die Körperspender gestellt. Gudrun Oestreich sitzt an
diesem Sommermorgen in der ersten Reihe des Doms, um Abschied von
ihrem Karl-Heinz zu nehmen. Über ein Jahr hat sie darauf gewartet;
bei einigen anderen Anwesenden hat es sogar zwei bis drei Jahre
gedauert bis sie Abschied nehmen konnten. Ein evangelischer und ein
katholischer Pfarrer geben in der Kirche mit Worten Trost. Der
Studentenchor singt. Kerzen werden entzündet und die Namen der
Körperspender verlesen. «Wir als Studenten kannten Ihre Angehörigen
nicht», sagt Medizinstudent Lennart Achmus in seiner Gedenkrede. «Sie
schenkten ein Teil von sich, der für uns von unschätzbarem Wert ist.»


Gudrun Oestreich wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Seine letzte
Ruhestätte hat Karl-Heinz Kühne auf dem Urnenfeld des Anatomischen
Instituts auf dem Alten Friedhof in Greifswald gefunden. Auf dem
Gedenkstein steht «Der Tod dient dem Leben.» Ganz im Sinne der
Beiden.

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