Ein Jahr nach Flüchtlingschaos: «Land in Sicht» am Berliner Lageso Von Kirsten Baukhage sowie Sophia Kembowski und Britta Pedersen , dpa

Im Sommer 2015 drängelten sich vor dem Lageso monatelang mehr als
1000 Flüchtlinge am Tag. Die zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge in

Berlin war restlos überfordert. Und heute?

Berlin (dpa) - Anfang Juli in Berlin: Um 9.30 Uhr liegt der große
Platz vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) fast
verlassen da. In den Wartezelten sitzen nur gut 20 Flüchtlinge. Vor
Haus A mit dem Zugang zu den Sachbearbeitern drängelt niemand. Vor
Haus J stehen etwa 100 Leute in einer Schlange und warten auf ihren
Aufruf, um den Antrag für die Gesundheitskarte zu stellen.

Die Schlange rückt ruhig vorwärts. Alles wirkt geordnet und
friedlich. Vor einem Jahr herrschten hier permanente Überfüllung,
Verzweiflung und Aggressionen. Hat Berlin aus seinem Flüchtlingschaos
gelernt? Schließlich ist Wahljahr. Am 18. September wird ein neues
Abgeordnetenhaus gewählt.

Rückblende Sommer 2015: Hunderte Flüchtlinge drängen sich Tag für T
ag
vor Berlins Zentraler Aufnahmestelle, dem Lageso. Sie sind erschöpft
und teils traumatisiert von Krieg, Vertreibung und monatelanger
Flucht. Die Menschen warten stundenlang auf ihre Erstregistrierung.
Der Kampf um die besten Plätze in den Schlangen beginnt schon nachts.

Die Ankömmlinge sind Wind und Regen oder sengender Hitze über 30 Grad
ausgesetzt, Bänke gibt es nicht - und niemand versorgt sie in den
ersten Tagen des Andrangs von behördlicher Seite mit dem Nötigsten.
Diese Bilder von humanitärer Inkompetenz gingen um die Welt. Sie
machten Berlins Lageso mitten in der Flüchtlingskatastrophe zum
traurigen Synonym behördlichen Versagens.

Hunderte ehrenamtliche Berliner und Touristen springen ein, betreut
von der Bürgerinitiative «Moabit hilft». Sie organisieren in
monatelangem Tag- und Nachteinsatz Wasser, Snacks, Bänke,
Sonnenschutz, Kleidung, Hygieneartikel, Windeln, Kinderwagen,
Ausruhzelte, eine medizinische Erstversorgung, später auch warme
Mahlzeiten für mehr als 1000 Menschen am Tag. Alles aus Spenden.

«Vom 15. Juli an haben wir keinen mehr erreicht im Lageso, hatten
keine Ansprechpartner mehr», sagt Diana Henniges, Sprecherin von
«Moabit hilft» heute. Es sei unbeschreiblich gewesen, wie die Behörde

die Verantwortung an die Ehrenamtlichen abgegeben habe. Dass sich
einiges im Laufe der Monate gebessert habe, sei vor allem das
Verdienst der Ehrenamtlichen. «Wir haben nie locker gelassen, immer
auf vom Staat bezahlte Verbesserungen gedrängt.»

Das Lageso wurde von dem europaweiten Flüchtlingszustrom vor allem
aus Syrien, Afghanistan, Irak und afrikanischen Staaten buchstäblich
überrollt und war hoffnungslos überfordert. Im Juni verdreifachten
sich die Zahlen der Schutzsuchenden bundesweit im Vergleich zu 2014.
Im Juli steigt der Andrang weiter. Am 6. Juli verzeichnet Berlin
einen Rekord: 1900 Flüchtlinge wollen an einem Tag beim Lageso
vorsprechen. Fast 7000 melden sich im Juli in Berlin.

Von September 2015 an schnellen die Flüchtlingszahlen in die Höhe,
nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende August das
sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt hat. Es sieht eine
Rückführung von Flüchtlingen in das EU-Land vor, in dem sie zuerst
angekommen waren. In Berlin verdoppelt sich im September die Zahl der
Flüchtlinge noch einmal auf 8627. Auf dem Höhepunkt im November sind
es 9908, zuerst in Berlin gemeldet haben sich sogar 11 487.

Für Negativschlagzeilen sorgt auch der Fall des kleinen Mohamed im
Oktober. Im Gedränge vor dem Lageso verschwindet der Flüchtlingsjunge
spurlos. Wochen später wird bekannt, dass ein 33-jähriger
Brandenburger sich die unübersichtliche Lage vor dem Hauptgebäude
zunutze gemacht hat, um den Vierjährigen zu entführen, zu
missbrauchen und später zu erdrosseln. Der Mordprozess gegen Silvio
S. läuft gerade in Potsdam.

Wegen der chaotischen Zustände am Lageso gerät Sozialsenator Mario
Czaja (CDU) unter Druck. Niemand habe diesen enormen
Asylbewerberandrang voraussehen können, betont er immer wieder. Doch,
halten Opposition und Verbände dagegen. Viel zu spät seien mehr
Personal, Räume und Hilfe aus anderen Behörden angefordert und
realisiert worden. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael
Müller (SPD) habe viel zu spät eingegriffen.

Schon im Februar 2015 warnte der Flüchtlingsrat, dass Berlin seine
Flüchtlinge «menschenunwürdig unterbringt und versorgt». Späteste
ns
seit November 2014 befänden sich alle «Standards im freien Sinkflug:
Container, Tragluft- und Turnhallen und gänzlich obdachlos gelassene
Asylsuchende», kritisiert der Verband. Im Juni legt er nach: Ein
Prüfbericht habe die Missstände im Lageso auch bei der Unterbringung
und dem Kostenmanagement belegt.

Es gebe viel zu wenige Gemeinschaftseinrichtungen für Flüchtlinge.
Diese würden deshalb in teils dubiosen Hostels untergebracht oder -
wenn diese voll seien - auf der Straße gelassen. Das Lageso bezahle
zu spät oder gar nicht Rechnungen der Betreiber, so dass noch mehr
Flüchtlingen die Obdachlosigkeit drohe.

Detlef Wagner (48) kann die Kritik von Ehrenamtlichen und Verbänden
verstehen. Der Polizei-Hauptkommissar, der seit September 2015
freiwillig beim Flüchtlingsmanagement des Lageso hilft, sagt im
Rückblick auf die größten Fehler: «Dass wir nicht mutig genug waren
,
schneller bei der Unterbringung der vielen Flüchtlinge zu reagieren.
Wir haben stundenlang überlegt und telefoniert statt auch mal Gebäude
zu beschlagnahmen.» Man hätte auch viel früher Profis aus den anderen

Senatsverwaltungen zur Hilfe holen sollen, merkt Wagner an. Dass die
Flüchtlingszahlen anschwellen, habe sich schon Ende 2014
abgezeichnet.

Heute leitet Wagner nach Monaten vor den Flüchtlingszelten in der
Turmstraße den neuen Lageso-Standort im reaktivierten Internationalen
Congress-Centrum (ICC). Der 2014 stillgelegte Stahlkoloss ist seit
20. Mai die zentrale Anlaufstelle für alle rund 49 000 Flüchtlinge,
die das Lageso heute noch betreut. So soll die Hauptstelle in der
Turmstraße entlastet werden.

Für Christiane Beckmann von «Moabit hilft» geht es vor allem darum,
vor der Wahl die schlimmen Bilder von langen Warteschlangen in
Sommerhitze vor dem Lageso zu vermeiden. «Es wird jetzt alles
verteilt. Statt im Freien vor dem Lageso warten die Flüchtlinge jetzt
im ICC. Doch die Bearbeitungszeiten sind kaum kürzer geworden.»

Besonders erbost die Helfer, dass rund 70 bis 80 Prozent der
Flüchtlinge im ICC dann per teurem Bus-Shuttle doch wieder in die
Turmstraße gefahren werden müssen, weil nur dort die Akten liegen und
die Entscheider sitzen.

Rund 30 Prozent der 55 000 Flüchtlinge aus 2015 würden bis heute auf
die ihnen gesetzlich zustehenden Leistungen in Berlin warten. Das
gehe vom Taschengeld über Gemeinschaftsunterkünfte bis zum Anspruch
auf Wohnungen als anerkannte Asylbewerber. «Als Staat habe ich
Gesetze einzuhalten», betont Beckmann. Bis heute lebten noch rund
9000 Flüchtlinge in Turnhallen, Hangars auf dem Ex-Flughafen
Tempelhof und einer Messehalle in absoluten Notunterkünften.

Dem Eindruck von Scheinverbesserungen widersprechen Lageso und der
Sozialsenator entschieden. Die Situation habe sich sichtbar
gebessert. «Wir konnten das Personal der im Asylbereich Tätigen im
Vergleich zum Vorjahr verfünffachen, auch durch die Hilfe anderer
Berliner Verwaltungen, von Zeitarbeitsfirmen und Soldaten der
Bundeswehr», bilanziert Czaja. Zudem seien neue Strukturen geschaffen
und die «teilweise wirklich dramatische Wartesituation am Standort
Turmstraße» beseitigt worden. Auch die Terminvergaben seien deutlich
besser geworden.

Der deutliche Rückgang der Flüchtlingszahlen seit März durch den
Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei hilft Berlin dabei.
Von 4663 Neuzugängen im Januar sank die Zahl auf 854 im Juni, also
rund 29 Menschen am Tag. Von September bis Dezember 2015 kamen rund
1000 Flüchtlinge täglich.

Ein Blick ins ICC zeigt die veränderte Situation. In der Vorhalle des
Gebäudes warten in drei Schlangen vormittags gegen 10.00 Uhr etwa 100
Menschen. Im riesigen Foyer ist viel Platz. Es ist ruhig. 840
Sitzplätze in Stahlsesseln machen das Warten erträglich. «Rund ein
Drittel der pro Tag 1000 bis 1400 Fälle kann hier bearbeitet werden.
Dazu gehören die Ausgabe von Krankenscheinen, die Verlängerung der
Kostenübernahme oder des Berlin-Passes», erläutert Wagner.

Die anderen werden per Bus-Shuttle in die Turmstraße gefahren. Nur
dort gibt es die Tresore, um täglich einige Zehntausende Euro an
Unterhaltsleistungen auszuzahlen. Die Menschen warteten zwischen
einer halben und zwei Stunden auf ihren Bus, sagt Wagner. «Inzwischen
haben wir dem Lageso in der Turmstraße die Namen und Anliegen der
Flüchtlinge übermittelt. Von den Sachbearbeitern dort kommt dann
grünes Licht, wenn deren Akten vorliegen und sie wieder
Bearbeitungskapazität haben», sagt Wagner.

Auch die Flüchtlinge sind meist angetan. «Hier ist es viel angenehmer
als in der Turmstraße», sagt der Palästinenser Iad (45). «Dort gibt

es keine Sitzgelegenheiten, und die Snacks hier sind eine schöne
Abwechslung.» Die 22-jährige Magdolin aus Syrien fühlt sich hier gut

und sicher. «Hier herrscht Ordnung im Vergleich zur Turmstraße.»

Ihr Landsmann Rodi (22) findet es jetzt dagegen viel zu kompliziert.
Ihm gefällt nicht, dass er erst Stunden im ICC warten muss, bevor er
dann doch in die Turmstraße gefahren wird, um da wieder zu warten.
«In der Turmstraße war ich nach zwei bis drei Stunden fertig.»

Caritas-Direktorin Ulrike Kostka sieht eine positive Entwicklung.
«Alles läuft im ICC strukturierter und unter deutlich besseren
Bedingungen», sagt Kostka. Der katholische Wohlfahrtsverband
engagiert sich sehr in der Flüchtlingsbetreuung. Doch noch immer sei
nicht genügend Personal vorhanden. So hätten die Betreiber der
Flüchtlingsheime Schwierigkeiten, ihre Verträge zu verhandeln. «Es
ist Land in Sicht, aber es gibt noch viel zu tun.»

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