«No-Go-Area» Duisburg-Marxloh? Wo Kinder auf Autos trampeln Von David Fischer, dpa
Händlern brechen die Geschäfte weg, Familienclans reklamieren Straßen
für sich, die Polizeigewerkschaft ist besorgt. Wird Duisburg-Marxloh
zur «No-Go-Area»? Nächste Woche besucht Kanzlerin Merkel das Viertel.
Duisburg (dpa) - Der Junge beginnt zu hüpfen und das Autodach poltert
im Takt. Ein Mädchen klettert auf allen Vieren über die Heckscheibe
nach oben. Ein Dreijähriger wetzt einen Spielzeugbagger über die
Motorhaube. Duisburg-Marxloh, Henriettenstraße - eine Szene zwischen
blassen Fassaden, Eck-Kiosk und leerstehenden Läden mit
abgeblätterten Logos in den Schaufenstern.
Das Duisburger Stadtviertel zählt zu den ärmsten in Deutschland:
16
Prozent Arbeitslosigkeit, 19 000 Einwohner, 64 Prozent davon mit
ausländischen Wurzeln. Verwahrloste Familien, Straßenkriminalität,
Gewaltexzesse, überforderte Behörden: Die Polizei warnt vor
rechtsfreien Räumen.
Am 25. August will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor Ort
ein Bild machen. «Gut leben in Deutschland» lautet der Titel der
Veranstaltungsreihe. 50 bis 60 Bewohner sind geladen. Ausgewählte
Gäste, ebenso vorsortiert wie die Fragen an die Kanzlerin, vermuten
die Anwohner.
Der August-Bebel-Platz liegt mitten im Herzen des Viertels. Auf einem
Basar beugen sich Frauen mit Kopftüchern und Gesichtsschleiern über
die Wühltische. Ein Paar Kunstleder-Sandalen kostet hier 5,99 Euro.
An einem der Stände hängen bodenlange purpurne marokkanische
Abendkleider aus Satin mit Dekolletés aus Strasssteinen. Nicht weit
davon entfernt lungern Berufsschüler auf einer Treppe.
Ein Streifenwagen rollt um die Ecke, das Grüppchen johlt. Ein Schüler
übertönt die anderen mit einer Schimpftirade gegen die Polizei. Peter
Cox lässt das kalt. Er ist Gewerkschaftssprecher und Polizist in der
Polizeiwache im Stadtteil Hamborn, die auch für Marxloh zuständig
ist. Ein Mann mittleren Alters mit hoher Stirn, Stoppelhaaren und
wachen Augen.
In manche Straßen Marxlohs trauen sich die Ordnungshüter nur noch mit
Verstärkung. Banale Auffahrunfälle nehmen die Beamten seit einiger
Zeit sicherheitshalber im Geschwader mit mehreren Streifenwagen auf.
Allzu oft wurden sie in Unterzahl von einem aggressiven Mob umringt,
bespuckt und bedroht, berichtet Cox. Im vergangenen Jahr rückte die
Polizei über 600 Mal mit vier oder mehr Streifenwagen zu Einsätzen
in Marxloh aus.
In diesem Sommer geriet das Viertel noch tiefer in eine Spirale der
Gewalt. Familienclans beanspruchen Straßenzüge für sich. Bürger wag
en
sich nachts kaum mehr nach draußen. Bei der kleinsten Angelegenheit
entzündet sich die Gewalt.
Wenn Cox aus seinem Alltag berichtet, klingt es wie aus einer Welt
ohne Recht und Gesetz. Da ist die Geschichte vom Straßenbahnfahrer,
dem ein Kind vor die Bahn lief. Blitzschnell formierte sich eine
aufgebrachte Menge, sie blockierte den Wagen und schlug auf die
Scheiben, um den Fahrer aus dem Waggon zu zerren.
Oder die Geschichte von zwei Streifenpolizisten, die bei einem
Verkehrsunfall die Personalien aufnehmen wollten. Auf einmal hatten
sie 15 Angreifer und 100 Schaulustige um sich. Erst als ein Beamter
die Dienstwaffe zog, wich die Menge zurück.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) schlug zuletzt öffentlich Alarm
gegen stark ausgedünnte Wachen und Angriffe gegen Polizisten. Sie
warnte vor «No-Go-Areas» in Essen, Dortmund und Duisburg. In einer
internen Analyse des Duisburger Polizeipräsidiums ist nach einem
Medienbericht vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung die Rede,
sollte sich die Lage verschärfen. Seit wenigen Wochen verstärkt eine
Hundertschaft die Polizei, um Marxloh abends sicherer zu machen.
Straßenkreuzungen sind unsichtbare Grenzen zwischen ethnischen
Gruppen. Anwohner sprechen von «der» Straße der Kurden oder «der»
Straße der Rumänen. Eine Gruppe steht unter besonderer Beobachtung:
libanesische Großfamilien, denen kriminelle Machenschaften angelastet
werden. Größere Straftaten von Clan-Mitgliedern werden jedoch weder
beim zuständigen Amtsgericht Duisburg-Hamborn noch vor dem
Landgericht verhandelt. Körperverletzung, Betrug, Diebstähle - in
Duisburg sei dies «Massenkriminalität», die auf keine Nationalität
beschränkt werden könne, sagt ein Amtsgerichtssprecher. Wer in welche
Familienstrukturen verstrickt sei, sehe man den Akten nicht an.
Bis in die 1970er Jahre war Marxloh eine beliebte Einkaufs- und
Wohngegend. Deutsche und Gastarbeiter lebten hier und arbeiteten
zusammen in den Werken. Dann kam es zu einschneidenden Veränderungen:
Die Stahlindustrie brach ein, Tausende verloren ihre Jobs. Junge und
besser ausgebildete Arbeitskräfte verließen das Viertel. Dies setzte
eine urbane Abwärtsspirale in Gang: Durch den Massenabzug fielen die
Immobilienpreise. Es blieben die weniger kaufkräftigen Bewohner und
Migranten. Der Abstieg dauert nun schon Jahrzehnte an.
An bessere Zeiten erinnern noch die nostalgischen Gründerzeitbauten
auf der Weseler Straße. Durch sie wird Marxloh heute mit seiner
«Hochzeitsmeile» in Verbindung gebracht. Wegen der 40 Brautgeschäfte
ist manchmal auch von der «romantischsten Straße Europas» die Rede.
Lachsfarbene, blütenweiße und kirschrote Tüllkleider zieren
zahlreiche Schaufenster und locken muslimische Bräute von weit her in
die Geschäfte. Doch auch die türkischen Brautmodeverkäufer klagen
über Konkurrenz in den muslimischen Hochburgen Köln, Berlin oder
Mannheim.
Eine Parallelstraße weiter haben Unbekannte die Fensterscheibe eines
türkischen Kiosks zertrümmert. Erst flog ein Ziegelstein, dann
ein Gullydeckel. Zwei Vorfälle innerhalb von zwei Wochen, berichtet
die Kioskverkäuferin in schwarzem Stretchshirt und grauer
Jogginghose. Sie verkauft Filterkaffee für 80 Cent, Instant-Nudeln
für 60 Cent, Wassereis für 15 Cent. «Ich bin hier groß geworden,
aber
das ist schon eine schlimme Zeit. Mein Papa versteckt die Autos in
der Garage», sagt die 29-Jährige. Und immer wieder platzt es aus ihr
heraus: «Ich bin selber Ausländerin, aber...»
Auf den Merkel-Besuch setzt sie keine Hoffnungen. Die Kanzlerin solle
besser mit den «richtigen Leuten sprechen», nicht mit handverlesen
Gästen. Mit ihrer Mutter zum Beispiel. «Die würde sie ordentlich in
die Mangel nehmen.»
Das Marxloh Center ist einer der letzten Fixpunkte im Viertel. An der
Fassade des Einkaufszentrums hängen die Logos der «Grundversorger»:
ein Discounter, eine Billig-Kleidungskette, ein Elektrohändler mit
übergroßer Werbung für seine Null-Prozent-Finanzierung. Im
Erdgeschoss führt Klaus Heinze einen Kiosk mit angegliederter
Postfiliale. Der 71-Jährige gehört zu den alteingesessenen
Geschäftsleuten in Marxloh. Vor vier Jahren brach der Umsatz seines
Ladens ein. «Viele ältere Menschen trauen sich nicht mehr hierher,
aus Angst, angepöbelt oder angebettelt zu werden», sagt er. Zuletzt
sei zwar im Marxloh Center das Sicherheitspersonal aufgestockt
worden. Auf Fahrrädern oder Inline-Skates machten Jugendliche aber
weiterhin das Haus unsicher.
An ruhige Geschäfte ist auch in einem kleinen Kaufhaus in der
unmittelbaren Nachbarschaft nicht zu denken. Die Filialchefin
berichtet von teils anarchischen Zuständen. Junge Randalierer
schmieren Pommes-Mayonnaise an die Kleiderständer. An anderen Tagen
werfen sie Waren in die Gänge oder öffnen Getränke ohne zu
bezahlen. Und das, obwohl Geschäft und die nächste Polizeiwache keine
50 Meter trennen. «Man kann nichts machen, als immer wieder die
Polizei zu rufen», sagt sie. Immerhin sei in ihrem Laden noch niemand
körperlich zu Schaden gekommen. Anders als in der Bank in der Nähe.
Erst kürzlich seien zwei Frauen krankenhausreif geprügelt worden.
In Marxloh gibt es städtische Projekte und Hilfsprogramme.
Bürgerinitiativen machen sich mit der Stadt Gedanken, wie
Häuserfassaden verschönert und leere Gebäude genutzt werden
können. Eine Nachbarschaftshilfe hilft Bedürftigen bei
Behördengängen. Ehrenamtliche Bildungslotsen unterstützen
benachteiligte Kinder. Eine Ausleihstelle stellt fehlende Materialien
bereit, so können jährlich rund 40 Feste mit Biertischen oder Zelten
ausgestattet werden. Pater Oliver und sein Team verarzten jede Woche
Dutzende bei einer kostenlosen Sprechstunde. An ruhigen Tagen kommen
40, manchmal sind es 90 Leute. Tausende Zuwanderer leben
nach Schätzungen ohne Krankenversicherung in der Stadt.
Aus Sicht der Polizei ist im Viertel durch die Hundertschaft etwas
Ruhe eingekehrt. Doch es ist ein flüchtiger Frieden. Der Kampf sei
verloren, wenn der erste Polizist wegrenne, sagt
Gewerkschaftssprecher Cox.
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