Cannabis als Medizin in Israel: «Wir sind erleichtert» Von Alexandra Rojkov, dpa

Die Wirkung von medizinischem Cannabis ist umstritten. Ausgerechnet
im kleinen Israel schwören Tausende Patienten darauf. Auch Kinder
bekommen das Mittel verschrieben - teils mit erstaunlichem Erfolg.

Tel Aviv (dpa) - Es begann, als Jali vier Monate alt war. Der Junge
wand sich unter Krämpfen, die Muskeln zuckten. Die epileptischen
Anfälle sollten jahrelang wiederkehren: Immer wieder schlug der
Körper des Kleinen plötzlich aus, oft mehrmals am Tag. Um sich nicht
zu verletzen, trug Jali einen Sturzhelm. Die Eltern lebten ständig in
Sorge, die beiden Brüder fühlten sich vernachlässigt. «Die Krankhei
t
hat unser ganzes Leben bestimmt», sagt Mutter Jael Bracha.

Heute ist Jali sieben Jahre alt - und symptomfrei. Das verdankt er
einem Mittel, das vielerorts illegal und überall umstritten ist:
Cannabis. Dreimal am Tag bekommt Jali mehrere Tropfen, die die
Wirkstoffe Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD)
enthalten. Seit er das Mittel nehme, erzählt die Mutter, habe er
keinen einzigen Anfall mehr gehabt.

Um den medizinischem Einsatz von Cannabis ranken sich viele Mythen,
vermischen sich Sorgen um das Patientenwohl und wirtschaftliche
Interessen. Richtig dosiert kann Cannabis offenbar Schmerzen und
Entzündungen lindern, den Appetit anregen und die Stimmung heben.
Kritiker bemängeln dagegen, der Nutzen sei zu wenig erforscht, das
Risiko zu groß.

In Deutschland erhalten nur wenige Patienten eine Erlaubnis zum
Konsum des Mittels. Einziges hierzulande zugelassenes Medikament auf
Cannabis-Basis ist Sativex. Viele Kassen übernehmen die Kosten.
Schwerkranke Menschen dürfen mit einer Ausnahmegenehmigung des
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auch
Cannabisblüten oder -Extrakt über Apotheken beziehen. Bundesweit
hätten derzeit 403 Patienten die Erlaubnis, sagt BfArM-Sprecher Maik
Pommer. Seit 2005 wurden 740 Anträge gestellt, 449 davon genehmigt.

In Israel dagegen, wo Jali mit seiner Familie lebt, hat sich Cannabis
für medizinische Zwecke etabliert. Mehr als 20 000 Patienten haben
laut Gesundheitsministerium eine Lizenz für den Kauf solcher Medizin.
Für viele ergänzt der Stoff konventionelle Medikamente. So auch für
Jali.

Bevor der Junge Cannabis bekam, musste er sechs verschiedene
Medikamente nehmen. Er wurde fahrig, konnte sich schlecht ausdrücken
- und trotzdem blieben die epileptischen Anfälle nicht aus. Im Herbst
2014 krampfte er zwei volle Tage lang. Erst ein künstliches Koma
stoppte den Schock. Die Angst um das Kind belastete die Familie. Bis
einer der älteren Söhne im Internet auf einen Artikel stieß: Medien
berichteten über Kinder in den USA, deren Epilepsie durch Cannabis
gelindert wurde.

«Natürlich hatte ich Zweifel», sagt Jael Bracha. «Was, wenn mein So
hn
in einen Drogenrausch fällt?» Erst als sie ihr Kind im Koma sah und
damit «keine andere Chance», bat Bracha einen Arzt um ein
Cannabis-Rezept.

Wer in Israel das erste Mal Cannabis verschrieben bekommt, landet oft
bei Tikun Olam im Zentrum von Tel Aviv. Die Organisation - übersetzt
bedeutet ihr Name «Die Welt heilen» - ist der größte
Cannabis-Anbieter des Landes. Ihre Praxis liegt im Parterre eines
Wohnhauses, gleich links von einem Pilates-Studio. An den Wänden
hängen Bilder von den Blüten, daneben der Dankesbrief eines
Patienten: «Cannabis hat mein Leben verändert.»

Mehrere Tausend Menschen werden von Tikun Olam betreut, darunter rund
70 Kinder. Tikun Olam preist Cannabis als Wundermittel mit
vergleichsweise wenig Nebenwirkungen: Es helfe unter anderem bei
neurologischen Krankheiten, chronischen Schmerzen, posttraumatischer
Belastung. «Wir finden, dass Cannabis schon viel früher verschrieben
werden sollte», sagt eine Sprecherin.

Doch auch im aufgeschlossenen Israel erhält Cannabis nur, wer
nachweisen kann, dass konventionelle Medizin bislang versagt hat.
Allen Lobeshymnen zum Trotz: Es fehlen große Studien, die die Wirkung
zweifelsfrei belegen.

So sieht es auch das israelische Gesundheitsministerium. «Viele
Menschen berichten zwar, dass es ihnen mit Cannabis besser geht»,
sagt Boaz Lev, Leiter der Gesundheitsabteilung. «Aber es ist schwer,
den objektiven Nutzen von Cannabis zu messen.» Gleichzeitig bestehe
die Gefahr, dass Patienten das Mittel öffentlich konsumierten oder
mit Gesunden teilten. Mancher Patient verkaufe es gar weiter.

Allerdings zeigt eine US-Studie im Fachblatt «The Lancet», dass die
Freigabe von Marihuana als Arznei den Freizeit-Konsum nicht anregt.
Die Forscher der Columbia University in New York hatten Daten von
mehr als einer Million Jugendlichen aus 48 US-Staaten zwischen 1991
und 2014 ausgewertet. Hinweise darauf, dass mehr gekifft wird, wenn
Marihuana vom Arzt verordnet wird, fanden sie nicht.

Israel hat sich zwar dafür entschieden, Cannabis für Kranke
zugänglich zu machen. Aber die Haltung ist klar: «Cannabis ist eine
Droge», sagt Lev, «und kein Medikament.»

Jael Bracha, die Mutter des Kranken Jali, würde sich immer wieder für
die «Droge» entscheiden. Auch wenn die Familie die 370 Schekel - rund
85 Euro - pro Monat selbst zahlen muss. Doch seit der Junge das
Mittel nehme, müsse er keinen Helm mehr tragen - die Gefahr der
Stürze sei gebannt. «Wir sind erleichtert», sagt Bracha. Und
Nebenwirkungen? Jael Bracha überlegt. «Jali kichert viel», sagt sie
schließlich. Eine Folge, die sie gerne in Kauf nimmt.

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