Was ist normal? Streit um Diagnosen für seelische Leiden Von Christiane Löll, dpa

Die Neuauflage des Diagnosehandbuchs für psychische Krankheiten in
den USA sorgt für Streit. Experten befürchten, dass das Werk Gesunde
als Kranke abstempeln könnte. Zu den schärfsten Kritikern des
Handbuchs zählt der US-Psychiater und Autor Allen Frances.

Hamburg (dpa) - Was ist krank - und was noch gesund oder normal?
Erst Mitte Mai wird das neue Psychiatrie-Handbuch aus den USA zu
haben sein, doch der Streit darum schwelt schon seit Jahren. Die
Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) will den Leitfaden für
seelische Leiden (DSM-5) bei ihrer Jahrestagung offiziell
veröffentlichen. Hunderte Experten, darunter auch einige Deutsche,
haben mehr als ein Jahrzehnt daran mitgearbeitet und die Einteilung
von Depressionen, Angst oder Schizophrenie auf den Prüfstand
gestellt. Zuerst erschien das DSM im Jahr 1952.

Kritiker wie der US-Psychiater Allen Frances mahnen, dass nun neue
Diagnosen ohne ausreichende wissenschaftlichen Belege und
unzureichende Praxistests eingeführt werden. Der emeritierte
Professor hatte die Arbeit am Vorgänger DSM-IV (1994) maßgeblich
mitverantwortet. Seither hat es seiner Ansicht nach «drei neue
falsche Epidemien» bei Kindern gegeben: Autismus,
Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und bipolare Störungen. «Jeder fünf
te
erwachsene US-Bürger nimmt mindestens ein Medikament wegen eines
psychiatrischen Leidens ein», schreibt Frances in seinem Buch «Normal
- Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen».

Manche Erkrankung taucht im DSM-5 neu auf, etwa die «affektive
Dysregulation» für kleine Kinder, die regelmäßig mit
Verhaltensausbrüchen auffallen. Unter «minorer neurokognitiver
Störung» wird die nachlassende Gedächtnisleistung im Alter als
Krankheit erfasst. Das Asperger-Syndrom hingegen - eine Form von
Autismus - wird im neuen Handbuch anders einsortiert. Doch was
bedeutet dies nun für deutsche Patienten?

«Für Deutschland wird die Veröffentlichung des DSM-5 im Mai keine

unmittelbaren Auswirkungen haben, weil Ärzte und Psychologen nach dem
Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10,
abrechnen», sagt der Hamburger Professor Rainer Richter, Präsident
der Bundespsychotherapeutenkammer. Doch auch das ICD-10 werde gerade
überarbeitet und es sei nicht auszuschließen, dass Diagnosen nach dem
Vorbild der USA in den ICD-11 übernommen werden. «Diese Entwicklung
müssen wir sorgfältig verfolgen, gerade wenn es darum geht, eine für

Deutschland gültige Fassung zu erstellen.» Das DSM ist vor allem auch
als Grundlage für die Forschung anerkannt.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) plädiert in einer
Stellungnahme dafür, «die Zahl der Diagnosen nicht durch neue,
leichtere Störungen - für die es zumal keine Therapien gibt - zu
erhöhen». Der Vorstand äußert die Sorge, dass dies zu einer
«Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft» führen könnte

und außerdem «zu einer Vernachlässigung der medizinischen Versorgung

von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten».

Die DGPPN fügt jedoch hinzu, das Manual enthalte auch notwendige
Anpassungen im Diagnosesystem, die «nicht grundsätzlich abgelehnt
werden sollten». Und die Gesellschaft begrüßt, dass einige
Beschwerdebilder nicht in das DSM-5 aufgenommen wurden. Dazu zählt
unter anderem das Burnout-Syndrom.

Kritiker Frances schreibt, dass in den USA inzwischen 80 Prozent
aller Psychopharmaka von Allgemeinmedizinern verschrieben und
Diagnosen oft vorschnell gestellt würden. In Deutschland gestalten
sich die Verschreibungszahlen etwas anders: «Je nachdem welche Zahlen
man zugrunde legt und welche Psychopharmaka man mit einbezieht,
werden etwa ein Drittel bis etwas mehr als die Hälfte dieser
Medikamente von Hausärzten verschrieben», sagt Prof. Wilhelm-Bernhard
Niebling, Allgemeinmediziner und Vorstandsmitglied der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Etwa 50 000
Hausärzte stünden rund 6000 klassischen Nervenärzten und Psychiatern

gegenüber. «Wir setzen vom System her voraus, dass Hausärzte
beispielsweise Depressionen erkennen und sich in der Versorgung
einbringen müssen.» Und so schwingt bei der Debatte um DSM-5 auch die
Frage mit, wer eigentlich psychisch Kranke behandeln sollte.

Eine neue DSM-Diagnose werden die Fachgesellschaften besonders im
Auge behalten: Demnach kann eine mehr als zwei Wochen anhaltende
Trauer schon der Krankheit Depression zugeordnet werden, was mit
einer Behandlung - inklusive Antidepressiva - einhergehen könnte.
Laut Arzneiverordnungsreport 2012 hat sich die Zahl der
verschriebenen «definierten Tagesdosen» an Antidepressiva in
Deutschland in den zehn Jahren zuvor bereits mehr als verdoppelt.
Auch Frances kritisiert diese Neuerung scharf. Sein Appell am Ende
seines Buches: «Die Normalität ist jeden Rettungsversuch wert. So wie
die Psychiatrie.»

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