«Sie brauchen eine neue Pumpe» - Warten auf ein Spenderherz Von Nikolaus Dominik, dpa
Tausende Patienten warten verzweifelt auf ein Spenderorgan - viele
sterben noch vor der Transplantation. Der 60-jährige Journalist
Nikolaus Dominik erzählt von seinem Leben auf der Warteliste -
zwischen Hoffen, Verzweiflung und am Ende großer Dankbarkeit.
München (dpa) - Mir wird schwindelig. Der Boden scheint sich
meinen Füßen zu entziehen. «Ich sag's Ihnen ganz offen: Sie brauchen
ein neues Herz.» Der Münchner Herzchirurg Bruno Reichart sitzt an
seinem Schreibtisch und erläutert mir ruhig und sachlich das
Untersuchungsergebnis. Ich zittere. «Ihre rechte Herzkammer ist zu
groß, die Herzklappe flattert, schließt nicht mehr, da ist nichts zu
machen. Sie brauchen eine neue Pumpe.» In der medizinischen
Fachsprache heißt das: «Terminale Herzinsuffizienz bei abgelaufener
Myokarditis mit hochgradig eingeschränkter rechtsventrikulärer
Insuffizienz».
Bei meinem kranken Herzen besteht jederzeit die Gefahr eines
Stillstands. Für die dringend notwendige Transplantation steht kein
passendes Organ zu Verfügung, das heißt Warten. Warten auf den Tod
eines Menschen, um selbst zu überleben. Wir warten zu viert. Ein
junger Mann aus Nordbayern muss über sechs Monate ausharren, bis er
ein neues Herz bekommt. Eine ältere Frau ist bettlägerig. Einen
weiteren Patienten verliere ich irgendwann aus den Augen. Mir geht es
mit fast 60 Jahren noch recht gut.
In der zweiten Nacht träume ich, ein Herz sei für mich da - nur
ein Traum. Nach zwei Wochen wächst die Ungeduld, die Tage später in
Resignation umschlägt. Wachnächte mit quälenden Gedanken stellen sich
ein. Bald helfen nur noch Schlaftabletten für ruhige Nächte. Und dann
ein zweiter Schock. In der Nacht ist die ältere Patientin von nebenan
gestorben, gestorben auf der Warteliste. Bin ich der nächste? Wie
lange dauert es noch? In der Zeitung lese ich Unfallnachrichten mit
dem verzweifelten Wunsch, ein Spender könnte für mich darunter sein.
Als Transplantationskandidat muss ich 24 Stunden auf der
Intensivstation liegen, Tag und Nacht fast ununterbrochen verkabelt
am Monitor. Zusätzlich müssen die Ärzte regelmäßig die wichtigste
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Labordaten an das europäische Transplantationszentrum
(Euro-Transplant) im niederländischen Leiden senden, damit dort
unabhängige Spezialisten entscheiden können, wie dringend der Patient
ein neues Organ braucht. Nur wer die «höchste Dringlichkeit»
(High-Urgency-Status) zugeschrieben bekommt, hat Chancen auf eine
baldige Transplantation. Ich stehe auf der Liste ganz oben.
Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Deutschen Stiftung
Organtransplantation (DSO) deutschlandweit 4 054 Patienten mit einem
Spenderorgan versorgt, 272 weniger als im Jahr davor. Mehr als 12 000
Patienten warten derzeit in Deutschland auf ein Organ, die meisten
auf eine Niere. Täglich sterben nach Angaben der Deutschen
Gesellschaft für Gesundheitsökonomie drei Patienten auf der
Warteliste für eine lebensrettende Transplantation.
Ein Grund für den Rückgang der Organspenden ist nach Angaben von
Experten die Zunahme von Patientenverfügungen. Darin werden
lebenserhaltende und intensivmedizinische Maßnahmen in aussichtslosen
Fällen abgelehnt. Spenderorgane können bei einem Hirntod aber nur mit
Hilfe der Intensivmedizin für eine Verpflanzung gewonnen werden. Auf
eine Million Einwohner kommen in Deutschland 15 Organspender, in
Spanien etwa 34.
Für mich vergehen Wochen auf der Intensivstation. Euro-Transplant
fordert eine weitere Herzkatheteruntersuchung. Wieder wird mir ein
Draht über die Leiste durch die Vene ins Herz für eine Gewebeprobe
(Biopsie) geschoben. Gleichzeitig werden Blut genommen und
Sauerstoffsättigung gemessen. Die nach Leiden übermittelten Werte
sind weiterhin alarmierend. Ich bleibe als dringender Fall auf der
Warteliste für eine Herzverpflanzung. Jetzt nur keine Infektion
bekommen. In diesem Fall wäre eine Transplantation nicht möglich.
Bisher galt für die Organspende die freiwillige Zustimmungslösung:
Nur wenn ein Spendeausweis vorlag oder zu Lebzeiten nahen Angehörigen
die Spendebereitschaft mitgeteilt worden war, durften einem Hirntoten
Organe entnommen werden. Nach dem neuen Gesetz - der
Entscheidungslösung - sollen künftig alle Bürger regelmäßig befra
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werden, ob sie im Fall eines Hirntods einer Organspende zustimmen.
Sie können sich dafür oder dagegen aussprechen oder aber die Anfrage
ignorieren. Experten sind sich einig, dass die neue Regelung besser
als die bestehende ist. Sie kritisieren aber, dass die Befragten
nicht gezwungen werden, klar Position zu beziehen.
«Wenn Leute das ablehnen, muss man das akzeptieren», sagt
Reichart, international anerkannter Experte und langjähriger Chef der
Münchner Herzchirurgie. Viele Menschen zweifeln, dass der Hirntod
tatsächlich das Ende des Lebens bedeutet. «Keiner ist vom Hirntod je
zurückgekommen», sagt Reichart, der 1983 in Deutschland die erste
kombinierte Herz-Lungen-Transplantation erfolgreich durchgeführt
hatte.
Skeptiker wie der Geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospiz
Stiftung, Eugen Brysch, fordern, vor einer Neuregelung eine breite
Diskussion und Information über den Hirntod in der Öffentlichkeit.
Brysch ist dagegen, dass Organisationen wie die Ärztekammer über die
Organverteilung mitentscheiden. Zudem kritisiert er, dass die meisten
Kliniken ihrer Pflicht nicht ausreichend nachkämen, potenzielle
Organspender zu melden.
Mein Zustand verschlechtert sich rapide. Mehrmals muss Wasser aus
dem Lungenfell (Pleura) abpunktiert werden, zum Atmen brauche ich
Sauerstoffunterstützung. Und eines Tages wird dann plötzlich die Tür
zum Krankenzimmer aufgerissen, Ärzte und Krankenschwestern stürmen
mit einer kleinen Maschine ins Zimmer. Mein Monitor hat Alarm
geschlagen. Es geht um Leben und Tod. Mein Herz rast. Bei vollem
Bewusstsein werden mir die Elektroden eines Defibrillators angelegt.
Ein starker Stromimpuls lässt mich im Bett Zentimeter hoch springen,
beruhigt aber mein Herz - akute Gefahr vorbei. Doch das einsame
Warten auf ein Spenderorgan wird zur Verzweiflung. Es gibt keine
Besserung. Wieder muss ich lebenserhaltend defibrilliert werden.
Die Situation wird immer dramatischer. Mein Herz droht endgültig
auszusetzen. Das Ärzteteam plant eine Notoperation. Mir sollen
vorsorglich ein Schrittmacher und ein Defibrillator am Herz
implantiert werden, ein riskanter Eingriff in meinem Zustand.
Hoffnungslosigkeit macht mich völlig apathisch. Stumm hält mir meine
Frau die Hand.
Und dann geschieht das Wunder. Am Abend vor dem geplanten Eingriff
kommen plötzlich sechs Ärzte ins Krankenzimmer. «Wir haben ein
passendes Herz für Sie, ein gutes», sagt Professor Reichart. Nach
über drei Monaten Wartezeit die Erlösung. Der Hubschrauber und das
Explantationsteam sind unterwegs. Irgendwo in Deutschland, den
Benelux-Staaten, Österreich, Slowenien oder Kroatien ist ein Mensch
gestorben, der vor seinem Tod einer Organspende zugestimmt hat.
Nähere Einzelheiten werde ich nie erfahren.
Rund vier Stunden nach der frohen Botschaft beginnt kurz vor
Mitternacht die Operation. Gegen vier Uhr morgens schlägt ein neues
Herz in meiner Brust. Als ich aus tiefer Bewusstlosigkeit aufwache,
sitzt meine Frau lächelnd am Krankenbett. Mir ist nicht bewusst, was
hinter mir liegt. Ich kann weder Zeit noch Raum begreifen. Erst
später verstehe ich: Es ist alles gut gegangen.
Chefarztvisite am vierten Tag nach der Transplantation. Das Team
in weißen Ärztekitteln, nur der Chef - wie meistens - in blauem
Blazer mit glänzenden Messingknöpfen. «Wie geht's heute», fragt
Reichart routinehaft. «Ganz gut», flunkere ich, obwohl ich mich,
total verkabelt, kaum bewegen kann und ständig wegdämmere. Reichart
fragt seinen Oberarzt meine Daten ab: Blutdruck, Herzfrequenz,
Enzyme. Alles scheint im grünen Bereich zu sein.
Reichart verabschiedet sich und will schon zum nächsten Patienten
gehen. Da dreht er sich plötzlich um: «Mögen's a Bier?» Mir
verschlägt es Sekunden lang die Sprache. Ich bin doch frisch
herztransplantiert. Ein Bier? Doch dann fasse ich meinen Mut zusammen
und sage «Ja». «Der kriegt a Bier», sagt Reichart mit seinem
wienerisch-bayerischen Akzent und verschwindet. Tatsächlich bringt
mir der Pfleger Minuten später einen viertel Liter Münchner Bier im
Schnabelbecher. Es schmeckt komisch.
Vor mir liegt noch ein langer Weg. Komplikationen stellen sich
ein. Die Nieren versagen, Wassereinlagerungen müssen punktiert und
bakterielle Infektionen behandelt werden. Doch das neue Herz arbeitet
tadellos. Ich liege fast bewegungslos im Bett, kann in den ersten
Tagen nicht allein essen, bin hilflos und werde von Halluzinationen
geplagt. Über acht Wochen dauert es, bis die Nebenerkrankungen
abklingen. Danach kann ich durch das lange Liegen nicht mehr gehen.
Erst in der Rehabilitation lerne ich mit dem Rollator wieder mühsam
laufen, mich selbstständig zu waschen und allein zu essen.
Langsam realisiere ich, einer der Glücklichen von den bundesweit
rund 350 Herzempfängern im Jahr zu sein. Als ich neun Monate nach der
Transplantation auf Skiern stehe, vorsichtig und etwas wackelig,
steigt in mir Dank auf. Dank für die großherzige Entscheidung einer
Spenderin oder eines Spenders, die mich leben lässt.
# dpa-Notizblock
## Redaktioneller Hinweis
- Die Reportage lief erstmals am 03.02.2012 im dpa-Dienst und wurde
nun angesichts der Entscheidung für eine neue Organspende-Regelung
aktualisiert.
## Internet
- [Eurotransplant]( http://dpaq.de/WPB5X)
- [Organspendeausweis]( http://dpaq.de/yDmID)
- [Stiftung Organtransplantation]( http://dpaq.de/UWvLr)
- [Kampagne für Organspende]( http://dpaq.de/9j3ey)
## Orte
[Universitätsklinikum Großhadern] (Marchioninistr. 15, 81377 München)
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