Geschichte durchs Schlüsselloch: Erich Mühsams Tagebücher Von Nada Weigelt, dpa
Erich Mühsam war Dichter, Rebell und Schürzenjäger. Seine Tagebüche
r
geben Einblick in ein wichtiges Stück deutscher Geschichte.
Berlin (dpa) - Er gilt als der berühmteste deutsche Anarchist und
war Mitbegründer der Münchner Räterepublik: Erich Mühsam hat sein
ungewöhnliches Leben zum Beginn des vergangenen Jahrhunderts auf 7000
eng beschriebenen Tagebuchseiten festgehalten. In einem Mammutprojekt
werden die schonungslos offenen Lebenserinnerungen jetzt komplett der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
«Das ist ein Stück deutscher Geschichte, das sonst untergehen
würde», sagt Herausgeber Chris Hirte, der das Projekt zusammen mit
dem Informatiker Conrad Piens in Eigenregie betreibt. Der kleine
Berliner Verbrecher Verlag (er heißt wirklich so) will die Tagebücher
aus den Jahren 1910 bis 1924 nach und nach in 15 Bänden
herausbringen. Gleichzeitig werden sie mit Anmerkungen, Erklärungen
und Links kostenlos im Internet veröffentlicht
(www.muehsam-tagebuecher.de).
Zum Auftakt stellte der Schauspieler Josef Bierbichler am
Donnerstag im Berliner Brecht-Haus den gerade erschienenen ersten
Band 1910/1911 vor. Zu dieser Zeit war Erich Mühsam, der Sohn eines
jüdischen Apothekers aus Lübeck, nach zehn wilden Jahren gerade im
Sanatorium gelandet und versuchte in München einen Neuanfang.
«Die Rücksicht darauf, dass diese Notizen einmal publiziert werden
könnten, darf nichts entscheiden», schreibt Mühsam an einem der
ersten Tage. Und so berichtet er pointiert und ohne Rücksicht auf
alle Konventionen von seinem Leben in der Schwabinger
Kaffeehaus-Bohème - den Begegnungen mit den Größen der damaligen
Kulturszene, dem ewigen Kampf ums Geld und vor allem seinen
unzähligen Frauengeschichten.
«Jede hat mich gern, aber keine liebt mich», klagt der Dichter,
der mit Zausebart und krummen Beinen als literarischer Außenseiter
durch die Szene treibt. «Mühsam will Anarchie nicht predigen, sondern
im Alltag leben», sagt Herausgeber Hirte. Die Politaktionen, der
revolutionäre Kampf gegen die Monarchie finden in den Tagebüchern
zunächst wenig Raum. Erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs rücken
die politischen Themen stärker in den Vordergrund, heißt es in den
editorischen Notizen.
Für Hirte ist Erich Mühsam ein Lebensprojekt. Der freiberuflich
tätige Übersetzer war in der DDR Mitherausgeber einer Werkausgabe des
Dichters, 1994 veröffentlichte er bei dtv eine Auswahl aus den
Tagebüchern. Seit zwei Jahren arbeitet er nun gemeinsam mit Piens an
der Gesamtausgabe. Die ursprünglich 42 eng beschriebenen
Originalkladden liegen nach einer abenteuerlichen Reise über Prag
nach Moskau als Fotokopie vor, einige politisch brisante Hefte sind
allerdings «verschwunden».
In aufwändiger Kleinarbeit vergleichen die Herausgeber die
Handschrift mit einer noch von der DDR in Auftrag gegebenen
abgetippten Version, sie ergänzen, erläutern, verlinken - und stellen
das Ergebnis jeweils bei Erscheinen der Druckausgabe ins Netz. «Wir
machen das als Freizeitarbeit. Es ist nicht "mühsam", sondern
mühselig», sagt Piens lachend.
Bis 2018 soll das Werk fertig sein. Der letzte Band endet 1924,
als Erich Mühsam nach fünf Jahren aus bayerischer Haft entlassen
wird, mit dem Wort «Frei!». 1934 wird der Weltverbesserer von den
Nazis im KZ Oranienburg ermordet.
# Notizblock
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- [Literaturforum im Brecht-Haus](Chausseestr. 125, Berlin-Mitte)
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