Historikerin: «Erfindung mit epochaler Bedeutung» Interview: Daniel Rademacher, dpa

Berlin (dpa) - Zu Beginn wurde sie quasi unterm Ladentisch
verkauft, inzwischen kennt sie jeder: Seit ihrer Einführung in
Deutschland 1961 hat die Pille die Gemüter erhitzt. Die
Zeithistorikerin Sybille Steinbacher von der Universität Wien erklärt
im dpa-Interview, wie aus einem «Freibrief für eheliche Untreue» ein

Lifestyle-Medikament wurde.

Frau Professor Steinbacher, wie wurde das neue Medikament damals
aufgenommen?

Sybille Steinbacher: «Anders als wir uns das heute vorstellen,
reagierten die Zeitgenossinnen eher zurückhaltend auf die Pille.
Leserbriefe, die Oswalt Kolle, der Aufklärer der Nation, auf seine
Artikelserien hin erhielt, zeigen beispielsweise, dass die Frauen
keineswegs in Begeisterungsstürme ausbrachen, sondern vielmehr vor
allem über die Nebenwirkungen klagten.»

Deutschland war das erste europäische Land, das die Pille nach der
Einführung in den USA auf den Markt brachte. 1968 stand noch bevor -
kein einfaches Unterfangen in einer Zeit voller Tabus ...

Steinbacher: «Die Schering AG handelte sehr vorsichtig und
zurückhaltend, vermied jede mediale Öffentlichkeit und gab die Pille
nur an ausgewählte Ärzte aus. Offiziell wurde sie als Mittel gegen
Regelbeschwerden zugelassen und lange Zeit nur verheirateten Müttern
verschrieben. Jahrelang war sie daher in der breiten Öffentlichkeit
gar nicht bekannt. Die Zeit war ja stark geprägt vom
Sittlichkeitsdiskurs. Die 'Verfechter von Anstand und Moral' standen
den sogenannten Fortschrittsanhängern gegenüber. In dieser Hinsicht
war das öffentliche Reden über Sexualität nichts Neues - im
Gegenteil: Viele Gefechte waren auf diesem Gebiet schon geschlagen
worden. Und seit den 50er Jahren florierte ja Beate Uhses
Erotik-Versandhaus.»

Wie lief die öffentliche Debatte über die Pille ab?

Steinbacher: «So richtig los ging die Diskussion erst ab Mitte der
sechziger Jahre, als die Pille allmählich bekannter wurde. Sie wurde
medial ausgetragen in Zeitschriften und Leserbriefspalten.
Schlagworte waren - je nach Blickwinkel - der drohende Sittenverfall
oder - im Zeitalter der Planbarkeit - die neuen Möglichkeiten der
Familienplanung. Als Verteidiger von Sitte und Anstand spielte eine
Gruppe von Medizin-Professoren und niedergelassenen Ärzten eine
besondere Rolle. Sie forderten Bonn Ende 1964 in einem Manifest auf,
der sogenannten Ulmer Erklärung, die Pille gesetzlich zu verbieten.
Denn die Frau sei die Wahrerin der sittlichen Ordnung; die Pille
bringe den Fortbestand der Kulturnation in Gefahr.»

Die Einführung der Pille fiel in die Zeit des Baus der Berliner Mauer
- wie verhielt sich die DDR?

Steinbacher: «Zunächst herrschte Skepsis und es hieß, die Pille sei
mit der 'sozialistischen Moral' nicht zu vereinbaren. Doch wollte die
DDR dem wissenschaftlichen Fortschritt im Westen nicht
hinterherhinken. Eingeführt wurde die Pille dann 1965 und bekam -
anders als im Westen, wo man von der Anti-Baby-Pille sprach (was dort
sehr umstritten war), - die Bezeichnung Wunschkindpille. Auch war die
Abgabepolitik eine andere. Auch unverheiratete Frauen und junge
Mädchen bekamen sie verschrieben.»

Würden Sie sagen, dass die Pille die bahnbrechendste Erfindung des
20. Jahrhunderts ist?

Steinbacher: «Sie hat schon epochale Bedeutung. Dass sie das Mittel
der 'sexuellen Befreiung' war, ist ihr allerdings erst im Nachhinein
zugeschrieben worden. Für die Zeitgenossen war die Tragweite zunächst
gar nicht so klar. Aber spätestens Ende der 60er Jahre entwickelte
sich die Pille zu einem Lifestyle-Medikament.»

Mit dem Abstand von 50 Jahren: Was hat die Pille in
gesellschaftlicher Hinsicht bewirkt?

Steinbacher: «Sie ermöglichte angstfreie Sexualität. Und sie gab
Anstöße für das Nachdenken über das Geschlechterverhältnis und di
e
Frage der Gleichberechtigung. Die Kritik der Frauenbewegung Anfang
der 70er Jahre führte ja klar vor Augen, dass die Pille Verhütung zur
Angelegenheit allein der Frauen gemachte hatte und ihnen abverlangte,
Nebenwirkungen und Langzeitfolgen in Kauf zu nehmen.»

# dpa-Notizblock

## Internet
- [Lehrstuhl-Website Uni Wien](http://dpaq.de/EmLBC)

## Service
- Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um
Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, Siedler, 576
Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-88680-977-6

## Orte
- Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, Spitalgasse 2-4, Hof
1, 1090 Wien

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