«Für Lebende haben wir hier nichts» Von Heiko Lossie, dpa

Wenn Jürgen Röhr heute die Hand auf seinen Bauch legt, spürt er
dort nichts mehr. 2003 wurde der Streifenpolizist in Berlin-Kreuzberg
niedergeschossen, die Kugel durchschlug seinen halben Körper. Nach 85
Tagen Koma erwachte Röhr als Schwerbehinderter. Um die amtliche
Anerkennung seines Schicksals musste er jahrelang kämpfen. Heute
hilft der 50-Jährige anderen Polizisten in einer privaten Initiative.

Berlin (dpa) - An den Jahrhundertsommer 2003 kann sich Jürgen Röhr
nicht erinnern. Für den Berliner Streifenpolizisten stand die Welt in
diesen Tagen still. Drei Monate lag er mit einer Schussverletzung im
Koma. In dieser Zeit wurden Deutschlands Fußball-Frauen Weltmeister,
Lance Armstrong gewann einmal mehr die Tour de France und Hamburgs
Bürgermeister Ole von Beust entließ Innensenator Ronald Schill. Als
Jürgen Röhr erwachte, war es Herbst. Und er konnte sich nicht mehr
bewegen.

Ein letzter Blick zur Ehefrau

Begonnen hatte alles am 30. Juni 2003. Fast 30 Grad sind es an
diesem Tag in Berlin, der für den Polizeihauptmeister Jürgen Röhr mit

Routine beginnt. Am Nachmittag schaut seine Tochter kurz vorbei. Sie
ist mit Röhrs Frau Katrin in der Stadt verabredet. Es ist 17.30 Uhr,
als in der Kreuzberger Wache ein Verletzter gemeldet wird. Röhr eilt
mit Martinshorn und Blaulicht los, seine Streifenpartnerin auf dem
Beifahrersitz hört den Funk. Auf Höhe der Kochstraße rauscht der
grün-weiße Wagen am Auto von Röhrs Frau vorbei. Auch sie ist bei der

Polizei, hat an diesem Tag aber frei. Die Blicke der Eheleute treffen
sich noch einmal kurz. Dann ist im Funk von Schüssen die Rede, die
Beamten werden mehrmals gewarnt: «Auf Eigensicherung achten».

Nur ein paar Hundert Meter entfernt ist zu dieser Zeit ein 38
Jahre alter Karosseriebauer auf der Flucht. Der Mann, ein geübter
Sportschütze aus Berlin-Treptow, war mit seinem Revolver zu seiner
Ex-Freundin in ein Café an der Wiener Straße gegangen. Dort hielt er
der 39-Jährigen die Waffe an die Stirn und drückte ab. Wieder vor dem
Café, schrie ihn ein Radfahrer an. Der Sportschütze zielte auch auf
ihn, eine Kugel in der Schulter riss den 31-Jährigen zu Boden. Der
Mann schoss noch zweimal auf den Kopf des Radlers, ging weiter und
kaufte an einem Kiosk eine Zeitung.

Querschläger pfeifen von der Wand

Kurze Zeit später biegt Röhr in die Ohlauer Straße ein, braust üb
er
die Kreuzung Reichenberger Straße und sieht zwei Kollegen. Sie zielen
mit ihren Waffen auf einen Mann, der in der einen Hand eine Zeitung
und in der anderen eine Zigarettenschachtel hält. Er ruft: «Ich
stelle mich nicht an die Wand, da müsst ihr schon schießen.» Röhr u
nd
seine Kollegin schleichen sich an den Verdächtigen heran, der mit den
anderen Beamten redet. Sie ahnen, dass es der Gesuchte ist.

Der Polizist schiebt sich an der Wand entlang. Er will den Täter
überraschen und zu Boden drücken. Doch in letzter Sekunde ruft einer
der Kollegen: «Geh' aus der Schusslinie!» In diesem Augenblick lässt

der Sportschütze Zeitung und Zigaretten fallen, greift unter sein
Hemd, wirbelt herum und schießt noch aus der Hüfte. Röhr dreht sich
weg. Doch er wird im Bauch getroffen, schleppt sich hinter ein Auto.
Dutzende Male wird nun geschossen. Mit einer Kugel im Bein flüchtet
der Sportschütze, der seinen Revolver mehrmals nachlädt, in einen
Hinterhof. Dort hält er sich die Waffe an den Kopf und drückt ab.

Knapp sieben Jahre ist das jetzt her. Jürgen Röhr sitzt in einem
Café in Berlin-Mitte, nippt an seinem Milchkaffee und erzählt, warum
alles so kam, wie es kam. Wer ihm begegnet, sieht nicht gleich, wie
sehr der 50-Jährige heute noch leidet. Er wirkt noch immer kräftig.
Früher lief er jede Woche zwanzig Kilometer, machte Krafttraining.
Vor der Wende war er bei der Volkspolizei. Wenn Röhr lächelt,
schieben sich viele kleine Falten an die Außenseiten seiner Augen.
«Es ist schon komisch, was mir in dem Schock nach dem Schuss damals
alles in den Sinn kam», sagt er. «Rufst Du jetzt Deine Frau an? Nee,
die fährt ja gerade Auto», war einer seiner ersten Gedanken.

Röhr beschreibt die Szenen von damals: Er setzt sich im Schutz der
Autos hin und sieht links unten im Hemd das Einschussloch. Rings
herum klebt ein Schmauchfleck vom Mündungsfeuer des großkalibrigen
Revolvers, der so nah am Körper losging. Die Austrittswunde klafft
unter Röhrs rechtem Arm. Um ihn herum pfeifen Querschläger von der
Hauswand, eine nahe Autoscheibe zerplatzt.

Röhr sieht, wie sein Bauch anschwillt. Der Schmerz brennt. Als die
Schießerei vorbei ist, leistet eine Ärztin, die zufällig in der Näh
e
ist, Erste Hilfe. Kinder umringen ihn. Eines sagt: «Schau' mal, der
da stirbt gleich.» Später im Krankenwagen sieht Röhr im Liegen durch

die Fenster sein Revier vorbeihuschen. Häuserfassaden, Hochbahnen,
Schilder. Dem Rettungssanitäter sagt er: «Wenn ich es nicht schaffe,
richtet meiner Familie aus, dass ich sie liebe.» In der Urban-Klinik
enden seine Erinnerungen, als er die Narkose bekommt.

85 Tage im Koma

Professor Uwe Baer, damals Chefarzt der Chirurgie, operierte den
Schwerverletzten. Er erinnert sich noch heute gut an Details. «Er hat
literweise Blut verloren.» Die Ärzte hätten zuerst alles mit Tücher
n
ausgestopft, bis sie das ganze Ausmaß erkannten: Die Kugel habe den
Dickdarm abgerissen, den Magen durchschlagen, ein Stück der Leber
zerfetzt, die Gallenblase komplett zerrissen und ein großes Blutgefäß

beschädigt. «Solche Mehrfachverletzungen mit vier Organen, das ist
schon außergewöhnlich», sagt Baer.

Für den Polizisten folgten 85 Tage Koma, allein in dieser Zeit
wird er elfmal operiert. «Eine Komplikation folgte auf die nächste»,

erinnert sich Professor Baer, der einige Wochen nach der ersten
Operation in den Urlaub ging. «Ich habe damals eigentlich gedacht,
dass ich ihn nicht lebend wiedersehe», sagt der Mediziner heute.

Röhr war in diesen Tagen dem Tod näher als dem Leben. Draußen, im

Jahrhundertsommer, drehte sich die Welt weiter. Drinnen in der Klinik
überstand Röhr im Koma sogar eine Lungenentzündung. Seine Frau wachte

täglich an seinem Bett. «Ich habe einfach funktioniert», sagt Katrin

Röhr. Sie redete viel mit ihrem Mann, spielte ihm seine
Lieblingsmusik über Kopfhörer vor - und hörte nicht auf, zu hoffen.
«Für mich stand immer fest, dass Jürgen durchkommt», sagt sie. Und

Professor Baer erinnert sich: «Das war unheimlich gut. Wir wissen,
dass so eine Nähe Patienten im Unterbewusstsein hilft. Ich denke,
ohne seine Frau hätte er das nie überstanden.»

Im Spiegel nicht erkannt

Als Jürgen Röhr an Tag 86 aus dem Koma erwacht, kann er nicht mal
mehr den Kopf drehen. «Als ich mich das erste Mal im Spiegel sah,
erkannte ich mich nicht wieder.» Doch er schafft es, alles neu zu
erlernen. Schon im Dezember macht er erste Schritte. «Ich wollte
wieder Streife fahren», erinnert er sich. Zu akzeptieren, dass die
Folgeschäden das nie zulassen werden, dauerte lange. Die Ärzte sagen
ihm: «Gehen Sie spazieren und freuen Sie sich, dass Sie noch leben».
Röhr denkt: «Leben, was ist das für ein Leben?». Nach 21 Operatione
n
ist bei ihm heute fast kein Organ mehr dort, wo es hingehört. Fünf
Rippen fehlen. Ein Muskel ist vom Rücken auf den Bauch verpflanzt
worden, den er nicht mehr spürt. Durch das lange Liegen ist ein Bein
taub. «Meine Frau trägt heute die schweren Einkaufstaschen, ich nur
die Hundeleine», sagt der 50-Jährige. Ein Schuss veränderte alles.

Röhrs Dienstherr, das Land Berlin, wirkte hilflos in seinem Fall
und er sah sein Schicksal in einer seelenlosen Bürokratie erstarren.
«Auf die Anerkennung als Dienstunfall habe ich länger als zwei Jahre
warten müssen.» Während seiner Zeit im Koma wurden die Klinik-
Rechnungen - sechsstellige Summen - nur unter Vorbehalt bezahlt. Für
die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sollten seine Verletzungen
dokumentiert werden. Dafür ging Röhr auch in die Pathologie, damit
seine Narben unter dem Verband fotografiert werden. Als er nach den
Aufnahmen um frisches Verbandszeug bat, bekam er zu hören: «Für
Lebende haben wir hier nichts.» Die alten Verbände wurden aus dem
Müll geholt. Röhr dachte: «Schade, dass der Schuss nicht tödlich
war.» Es dauerte Jahre, bis seine Schwerbehinderung amtlich anerkannt
war. Um die Höhe gab es Streit, denn es galt den Grad der Behinderung
festzulegen. Professor Bear meint dazu: «Die waren nicht eine Spur
darauf geeicht, wie mit ihm umzugehen ist.» Noch heute kämpft der
Polizist um Geld aus einer privaten Unfallversicherung.

Eine Qual war es für ihn auch, den alten Arbeitsplatz wieder zu
betreten. Bei einem der Besuche wurde er nach seinem Dienstausweis
gefragt. «Ich legte ihn auf den Tisch, und dann wurde er vor meinen
Augen zerschnitten. Ich dachte, es reißt mir das Herz heraus.» Als
Ersatz bekam er eine Pappkarte, auf der steht, dass er einst Polizist
war. Damals hätten ihm einige Kollegen auf die Schulter geklopft und
gesagt: «Na, jetzt hast Du es ja geschafft, schön früh im Ruhestand.
»
Einen Karton bekam er irgendwann auch. Seine blutige Uniform lag
darin. Andere Kollegen waren Röhr aber auch eine Stütze. Als er seine
Entlassungsurkunde kriegen sollte, holte ihn eine Polizeieskorte ab.
Er brauchte keine Rede, diese Geste allein reichte ihm.

Polizisten müssen oft schießen

Jürgen Röhrs Schicksal ist ein Ausnahmefall. Eine Statistik über
die Schwere von Verletzungen im Polizeidienst gibt es nicht. Gezählt
werden aber Fälle des «Widerstands gegen die Staatsgewalt». 2008 gab

es der Kriminalstatistik zufolge mehr als 28 000 Taten - Rekord in
den seit Jahren wachsenden Fallzahlen. Außerdem wird jedes Jahr
intern für die Innenministerkonferenz gezählt, wie oft Polizisten
ihre Waffen gegen Menschen einsetzten. Zwischen 1998 und 2008 wurde
demnach 512 Mal auf Menschen geschossen - das ist rechnerisch einmal
pro Woche. Dabei gab es 288 Verletzte und 81 Tote. Warnschüsse oder
beispielsweise Schüsse auf Autoreifen sind nicht mit eingerechnet -
allerdings Kugeln, die Menschen treffen sollten und ihr Ziel
verfehlten. Da Polizisten bei ihren Einsätzen selten alleine sind,
ist davon auszugehen, dass deutschlandweit Hunderte von ihnen in den
vergangenen Jahren diese Situation verarbeiten mussten.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) sagt, dass sich bei der
Betreuung der Beamten viel verbessert habe. Die «Einsatznachsorge»
werde nicht mehr stiefmütterlich behandelt. In jedem Bundesland gebe
es geschulte Experten. Der Bundesvorsitzende der DPolG, Rainer Wendt,
sieht aber auch noch Defizite: «Auf Seiten der Forschung geschieht
viel zu wenig. Jeden Tag schicken wir Tausende bewaffnete Kollegen
auf die Straße und wissen fast nichts darüber, was wissenschaftlichen
Ansprüchen gerecht würde.» Dabei sei es unstrittig, dass schon der
ganz normale Streifendienst genug Belastungen bereithalte.

Oliver Tschirner hat bereits etwas geleistet, das Wendt fordert.
Der Kripo-Beamte aus Osnabrück untersuchte in einer Masterarbeit,
welche Belastungen es nach dem Einsatz der Dienstwaffe gibt.
Tschirner beschreibt, wie wichtig schnelle und professionelle Hilfe
ist und gibt Empfehlungen für die Führungskräfte. Darin heißt es
auch: «Bieten sie die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe an.»

Von dieser Möglichkeit der Unterstützung hatte Jürgen Röhr damal
s
nur zufällig in einer Gewerkschaftszeitung gelesen. Die
«Selbsthilfegruppe für Polizeibeamte mit einem Schusswaffenerlebnis»

half ihm sehr, sagt er. Inzwischen leitet Röhr diese Gruppe, zusammen
mit Reinhold Bock aus dem bayerischen Aschaffenburg. Für Polizisten,
die auf Menschen schießen mussten oder beschossen wurden, ist es die
einzige Möglichkeit, sich mit Kollegen auszutauschen, die ähnlich
Belastendes erlebt haben. In Tschirners Arbeit heißt es, dass nach
Schüssen auf Menschen ein Drittel der Polizisten mittelfristig und
ein Drittel langfristig leidet - etwa an Depressionen,
Suchterkrankungen oder Angstzuständen.

Schutzweste fehlte damals

Die Berliner Polizei hat 2007, vier Jahre nach Röhrs Einsatz, eine
15 Seiten starke «Geschäftsanweisung zum Umgang mit traumatisierenden
dienstlichen Ereignissen» erlassen. Heute gibt es auch «Paten», die
betroffenen Polizisten den Weg durch die Bürokratie ebnen sollen. Und
2006 startete ein Training, bei dem Polizisten den Gebrauch ihrer
kugelsicheren Westen üben - in Röhrs Wagen, der damals ganz neu war,
fehlten sie noch. Der 50-Jährige hält es für falsch, zu überlegen,

was den Schuss alles hätte verhindern können. «Wenn ich noch einmal
30 Jahre zurück könnte, ich würde wieder Polizist werden», sagt er.


(Röhrs Selbsthilfegruppe: www.schusswaffenerlebnis.de;
Kriminalstatistik: http://dpaq.de/kriminalstat_08)

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