(dpa-Reportage) Alkohol macht Probleme, Kältebus bringt Hilfe Von Ute Klockner, dpa (Mit Bild)

Bingen (dpa) - Er ist mal hier, mal dort. Seit 28 Jahren zieht
Helmut quer durch die Republik, schläft unter Brücken, auf Parkbänken

und in Tiefgaragen. Bei jedem Wetter. «Damals ging alles den Bach
runter, es kamen Alkoholprobleme, dann kam der Absturz und ich hatte
mich nicht mehr im Griff», sagt der 63-Jährige stämmige Mann mit dem

zerfurchten Gesicht und zieht sich die schwarze Mütze tiefer über die
Stirn.

Derzeit lebt er nicht auf der Straße, sondern im Obdachlosenheim
in Bingen am Rhein. «Ich musste zum Arzt, meine Füße waren schwarz
vor Kälte», presst der gelernte Dreher in seiner verwaschenen
Aussprache heraus und zieht zum Beweis seine Jeans hoch, zeigt seine
in dickem Verband eingewickelten Füße. «Im Heim ist es wegen der
vielen Leute anstrengend, aber damit kann man leben.»

Bei der klirrenden Kälte geht es derzeit für viele Obdachlose ums
Überleben. Bislang seien in diesem Winter in Deutschland zehn
wohnungslose Männer erfroren, teilt die Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG) in Bielefeld auf ihrer Homepage mit.

Um Menschen wie Helmut kümmert sich der Verein «Platte - Die
Obdachloseninitiative Rheinland-Pfalz» seit seiner Gründung 1994. Er
will Obdachlosen unbürokratisch helfen und gegen gängige Vorurteile,
diese seien an ihrer Situation selbst schuld, ankämpfen. «Unser Motto
lautet "Integration statt Ausgrenzung"», sagt der Vorsitzende Ralf
Bäumlein. «Wir möchten den Dialog zwischen den Armen und dem
Normalbürger fördern und Hemmschwellen auf beiden Seiten senken.»
Aufgrund der guten Hilfsangebote in der Region sei Bingen immer eine
Obdachlosenhochburg gewesen.

Ralf Bäumlein ist ein großer, sportlicher Typ mit
wasserstoffblonden Haaren, zahlreichen Piercings und Ringen. Er kennt
die Schlafplätze der Obdachlosen der Region. Seit 1993 fährt der 46
Jahre alte Sozialarbeiter von Oktober bis März bei frostigen
Temperaturen im damals bundesweit ersten Kältebus jeden Abend seine
Route ­ selbst an Weihnachten.

An etwa 20 Stationen hält er an, schaut unter Unterschläge und
läuft durch Tiefgaragen, um Decken, Schlafsäcke, Isomatten und warme
Unterwäsche zu verteilen. Zusammen mit seinen Aufgaben tagsüber bei
der Binger Tafel komme er auf zwölf bis 14 Stunden Arbeit täglich.
Urlaub habe er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gemacht. «Aber
das ist ein Stück meines Lebens», begründet Bäumlein seinen Einsatz
.

Vergangene Nacht sei sie aus dem Obdachlosenheim geworfen worden,
sagt die kleine Frau mit den struppigen kurzen braunen Haaren und den
dicken babyblauen Fäustlingen. «Ich hatte was gesoffen.» Ihren Namen

und ihr Alter will sie nicht verraten. «Aber wie das auf der Straße
so ist, ich werd' von Leuten eingeladen und trinke dann halt.
Außerdem wärmts gut.» Nachts sei sie alleine unterwegs und suche
sich immer neue Schlafecken: «Immer nur unter dem gleichen Baum zu
schlafen, wär' ja auch langweilig», findet sie.

Ihren Schlafsack hat die Frau tagsüber gut versteckt, damit er
nicht geklaut wird. Ob sie seit zwölf oder 13 Jahren Platte macht ­
so heißt es im Jargon der Wohnungslosen für im Freien schlafen ­ sie

weiß es nicht mehr. Mit der Zeit hat sie die Orientierung verloren.
«Früher hab ich mal in 'ner Gärtnerei und dem Markt ausgeholfen, aber

dann wurd' ich arbeitslos und konnts nicht ändern.» Früher, erzählt

Bäumlein, sorgte die Frau für ihre zwei Kinder, die nun in einem Heim
aufwachsen. Doch über diese Vergangenheit spricht sie nur selten.

Obdachlosigkeit ohne Alkoholproblem gebe es so gut wie nie, sagt
der Sozialarbeiter. «Das Problem des täglichen Alkoholkonsums ist,
dass viele Leute nicht mehr merken, wie kalt es tatsächlich ist.»
Viele Obdachlose gäben sich zudem oft härter gesotten als sie seien
und behaupteten, dass ihnen die Kälte nicht zu stark zusetze.

Alkohol, Drogen, Jobverlust und familiäre Probleme, die Gründe für

Obdachlosigkeit sind zahlreich. «Es kann jeden treffen, der freie
Fall nach unten ist gegeben», erzählt Blümlein, während er den
Kleinbus zur Platte unter die Binger Rheinbrücke lenkt. Mit bestem
Panoramablick auf den Rhein und die gegenüberliegenden
schneebedeckten steilen Weinberge des Touristenstädtchens Rüdesheim
haben es sich hier Obdachlose beinahe wohnlich eingerichtet. Zwischen
den drei schäbigen Zelten, aus denen Altpapier und schmuddelige
Decken quillen, stehen eine Feuertonne und eine komplette leicht
abgewetzte Wohnzimmereinrichtung im Stile Louis XV.

Laternen und jede Menge Kerzen beleuchten den Tisch. Über die
Weihnachtsfeiertage haben sich die Männer eine Tanne aufgestellt. Ein
eiskalter Wind weht unablässig über den offenen Platz, von den stark
befahrenen Bahntrassen auf beiden Seiten des Rheins dröhnt Lärm. «In

so einer quasi Nobelplatte wohnen jedoch die wenigsten», sagt
Bäumlein, während er Holzkisten aus dem Kleinbus lädt. Brennmaterial

zum Feuermachen sei im Winter besonders knapp. Um unter der Brücke
bleiben zu dürfen, müssten die Obdachlosen das Gelände sauber halten.

Der Platz direkt neben einem Radweg wecke zudem das Interesse der
Bevölkerung am Leben der Obdachlosen.

Bäumlein startet wieder den Kältebus. Er fährt weiter bis zu einem

kahlen Verschlag hinter einer leerstehenden Lagerhalle. «Hier hab ich
letzten Winter den Cowboy tot gefunden, das war hart», erinnert sich
Bäumlein. Gestorben sei «Cowboy» jedoch nicht an der Kälte, sondern

laut medizinischer Untersuchung an einer Leberzirrhose, betont
Bäumlein nachdrücklich. Seit er unterwegs ist, sei in seiner Region
bislang noch keiner erfroren. «Verhindern wird man die Gefahr nie,
viele Obdachlose haben einen sehr schlechten Gesundheitszustand.
Durch unsere Hilfe können wir das Risiko jedoch verringern.»

Deutsche und europäische Wohnsitzlose haben Anspruch auf
staatliche Grundsicherung. Das Geld werde in Tagessätzen von rund
zwölf Euro ausgezahlt. «Doch wenn es darum geht, Wohnraum zu
vermitteln, schrecken viele vor den Behördengängen zurück», bedauer
t
Ralf Bäumlein.

Wie so viele Obdachlose, die sich bei der Binger Tafel
«Trockendock» mit Lebensmitteln versorgen, träumt auch Helmut davon,

im neuen Jahr in seinen eigenen vier Wänden zu leben, in denen er
sein Rentenalter verbringen kann. «Aber das ist so schwer», seufzt
er. Die Chancen, dass er nach fast 30 Jahren Platte den Absprung
schafft, stehen schlecht.

«Armut hinterlässt Spuren, je länger sie auf der Straße leben,
umso lethargischer werden die Leute und beginnen sich aufgegeben»,
erklärt Bäumlein. So komme es durchaus vor, dass sich Männer, die er

ins Krankenhaus gebracht hat, wieder selbst entlassen oder die
Behandlung durch den Sanitäter verweigern. Einmal habe er einen Mann
in eine Notunterkunft zwangseinweisen lassen, als dieser bei minus 20
Grad seine Unterlage aus Pappe im Freien nicht verlassen wollte.

«Die Straße ist jünger geworden», hat der Sozialarbeiter
beobachtet. Im Durchschnitt seien die Obdachlosen zwischen 40 und 50
Jahre alt, viele aber auch erst Anfang 20. Was Bäumlein ärgert ist,
dass es in den Städten immer weniger Plätze zum Platte machen gebe.
«Überdachungen werden umzäunt, leere Lagerhallen gesperrt, weil die
Leute befürchten, dass die Obdachlosen Müll zurücklassen.»

Auch aus den Bahnhöfen seien sie vertrieben worden. «Seit die
Bahnhöfe zu Konsumtempeln umgebaut wurden, werden Obdachlose durch
Sicherheitsbeamte entfernt, weil sie keine Fahrkarte haben.» Zudem
seien viele Bahnhofsmissionen geschlossen worden, kritisiert
Bäumlein. Dies zwinge viele dazu, an kälteren Plätzen auszuharren.

Bundesweit gibt es etwa 230 000 Obdachlose, wie die
stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenka, sagt. Eine Statistik gebe es
nicht. Rund 20 000 lebten ganz und gar auf der Straße, zumeist in den
großen Städten. In Ostdeutschland seien etwa 27 000 Menschen ohne
Wohnung und damit im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich weniger
als im Westen. Dies liege am höheren Wohnungsleerstand im Osten.

Rund ein Viertel der Obdachlosen seien Frauen. Eine von ihnen ist
die 33-jährige Melanie, der man aufgrund ihrer gepflegten Erscheinung
und der neuen Kleidung aus der Kleiderkammer nicht ansieht, dass sie
seit zwei Jahren auf der Straße lebt. «Ich hab mich scheiden lassen,
meine beiden Kinder sind zu den Eltern gezogen, ich habe zu trinken
angefangen und dann ging alles sehr schnell», fasst die gelernte
Rechtsanwaltsfachangestellte ihr Leben zusammen.

Seit zwei Monaten geht Melanie nun zur Suchtberatung. Sie träumt
davon, es im neuen Jahr zu schaffen, von der Straße los zu kommen und
auch ihren sechsjährigen Sohn und die 14 Jahre alte Tochter
wiederzusehen. Da sie sich von ihrem Hund Lassie nicht trennen
wollte, kann sie die Winternächte nicht in Herbergen unterkommen.
«Sie ist mein Ein und Alles, ein echter Freund.»

Aus Hygienegründen lehnen es die Betreiber der Unterkünfte ab,
sich um die Tiere zu kümmern. «Es muss etwas für Hundebesitzer getan

und überlegt werden, wie bundesweit die Unterbringung ihrer Tiere in
den Herbergen gelöst werden kann», fordert Bäumlein. «Wir sind
bundesweit die einzigen, wo eine Tierärztin die Hunde für die
Obdachlosen kostenlos behandelt und jedes Tier einen Impfpass hat.»

«Viele sehen im Leben auf der Straße einen Touch von Freiheit und
Unabhängigkeit und wollen so leben, jedenfalls für eine Zeit lang»,
erklärt der Sozialarbeiter. «So zu leben ist nicht nur schlecht. Ich
will keinem auf den Keks gehen», sagt der 45-jährige Michael, den
alle nur «Gag» nennen. Er geht nachts nicht mehr alleine auf Platte.
«Die meisten Leute sind ja nett zu uns, aber es gibt so Halbstarke,
die denken, den "Penner" verprügeln zu müssen.»

Die eisigen Temperaturen haben jedoch auch ihn, den
Hartgesottenen, vorübergehend nachts von der Straße verbannt: «Zur
Zeit penne ich bei Bekannten, nachdem mir bei minus 17 Grad die
Limonade eingefroren ist», scherzt er und schiebt nach: «Nee, war
natürlich das Bier.»

(www.verein-platte.de, www.bag-wohnungslosenhilfe.de)

[Obdachloseninitiative Rheinland-Pfalz]: Dammstraße 10, 55411 Bingen
[BAG Wohnungslosenhilfe]: Quellenhofweg 25, Bielefeld

dpa kl hx yyrs a3 ff

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