Alle unter einem Dach - Wie sich Pflege leben lässt und Würde bewahrt werden kann Von Jan-Henrik Petermann, dpa

Düsseldorf (dpa) - Es ist einer dieser nasskalt-trüben
Novembertage, und Gerda Pfand weiß, dass der Spätherbst ihres Lebens
längst begonnen hat. «Der liebe Gott hat mich bloß noch nicht
abgeholt», sagt die fidele Dame mit einem Lächeln im altersgegerbten
Gesicht. Es klingt halb trotzig, halb melancholisch. Doch Frau Pfands
Augen leuchten klar und durchdringend. In puncto Wachheit und
Neugierde scheint ihr «hier», wie sie sagt, niemand so schnell das
Wasser reichen zu können.

«Hier» - damit meint die 95-Jährige das Düsseldorfer Joachim-
Neander-Haus, in dem sie jetzt schon seit sieben Jahren lebt. Sieben
lange Jahre, die offensichtlich schön und abwechslungsreich waren und
nicht von roher Vernachlässigung geprägt, wie hin und wieder von
einzelnen Pflegeheimen zu hören ist. «Alles gut», murmelt die
Seniorin und wendet sich mit ihren Tischgenossinnen im Erdgeschoss
von Haus C dem Mittagessen zu. Auf dem Speiseplan steht bayerischer
Leberkäse mit Kohlrabi und hinterher Pfirsich-Creme.

Stationsleiterin Maria Salamon hat alles im Auge. Sie ist zur
Stelle, sollte sich einer ihrer Schützlinge verschlucken oder zu
unangemeldeten Spontanausflügen ausbüxen. «Das Durchschnittsalter
beträgt bei uns 86 Jahre. Da muss man aufpassen.» Insgesamt 146 alte
Menschen haben in dem Pflegezentrum der Diakonie in Düsseldorfs
südlichem Stadtteil Benrath ein Zuhause gefunden. Wer beim Betreten
der Rezeption allerdings erwartet, von der deprimierenden Stille
eines eintönigen Alten-Asyls aufgesogen zu werden, täuscht sich
gewaltig. Stattdessen herrscht an vielen Ecken quirliges Treiben.

«Alles, was mit Pflege zu tun hat» - so beschreiben sie ihr
integriertes Konzept, das hier ausnahmsweise mal nicht nur als
schicker Marketing-Begriff daherkommt. Das Modell wird gelebt.
Menschen aller drei Pflegestufen sind unter einem Dach vereint,
mobile Leichtbedürftige ebenso wie bewegungsunfähige Wachkoma-
Patienten. Die «Bedarfspyramide» erstreckt sich von Beratung und
ambulanten Diensten über Kurzzeitpflege bis hin zu dauerhafter
stationärer Betreuung.

Auf letztere ist auch Hildegard Wallach angewiesen. Sie ist das
Fotomodell des Heims. Ihr Gesicht ziert zahlreiche Broschüren und
Faltblätter. «Hallo, Chef!», ruft die alte Dame, ihren Gehbock munter
vor sich her schiebend. Der «Chef» ist Andreas Maus. Der gelernte
Betriebswirt ist hier seit 1997 als Heimleiter im Einsatz. Jeder
kennt ihn, jeder grüßt ihn. Während des Zivildienstes kam Maus
erstmals «mit dem sozialen Bereich in Kontakt» - ein Verhältnis, das
in seiner Herzlichkeit, aber auch Ernsthaftigkeit bis zum heutigen
Tag gehalten hat. «Frau Wallach, Sie haben Ihr Bett noch nicht
gemacht», neckt er.

Etwa 120 haupt- und 130 ehrenamtliche Helfer kümmern sich im
Joachim-Neander-Haus um die Bewohner. Dass die Heimleitung auf so
viel Interesse aus der Nachbarschaft zurückgreifen kann, darauf sind
sie hier mächtig stolz. «Natürlich wünschen wir uns noch mehr eigen
es
Personal. Mit Unterstützung der Ehrenamtlichen gelingt es uns aber,
gut über die Runden zu kommen», erklärt Maus. Johanna Rottenbiller,
Vorsitzende des Heimbeirats und heimliche zweite Leiterin des Hauses,
nickt bedächtig. «Ohne die Freiwilligen liefe gar nichts.»

Sitzgymnastik steht auch heute wieder auf dem Terminplan. Drei
Dutzend ältere Freizeit-Sportler schwenken im Gemeindecafé zu
rustikaler Blasmusik ihre grellbunten Namenstafeln. Physiotherapeutin
Andrea Holz entfaltet ein großes Fallschirmtuch; jeder bekommt einen
Zipfel zu fassen und soll das Tuch in Wallung bringen. Wie bunt es
erst wird, wenn sich die ganze Truppe dem Klavier in der Zimmerecke
widmet, kann Holz aus mehrfacher Erfahrung bestätigen. «Dann steigt
die Laune richtig. Manchmal haben wir auch einen DJ.»

Sie sind eine verschworene Gemeinschaft, die wie Pech und Schwefel
zusammenhält, aber nach allen Seiten offen ist. Viele haben über die
externen Angebote des Hauses jahrelang Kontakte geknüpft ­ und
blieben für immer. «Da sind auch einige, die von den Angehörigen
"abgeschoben" wurden, na klar», gibt Maus zu. «Aber so ist das halt
im Leben: Wenn man keine gute Beziehungen zueinander hatte, wird sich
das nicht ändern, nur weil man pflegebedürftig wird.»

13 Oldies treffen sich heute zum Konzentrationstraining. Bei den
Logik-Aufgaben gibt es harte Nüsse zu knacken, manch ein Jungspund
dürfte dabei ebenso ins Schwitzen kommen. Manfred Henke ist der
einzige männliche Besucher an diesem Vormittag. «Die Frauen nehmen
mich alle noch für voll», grinst der 80-Jährige. Derweil mahnt
Übungsleiterin Christa Götz die Damen zur Disziplin: «Hey, nicht
abgucken!» Wer schummelt, bekommt mehr Hausaufgaben als die anderen.

Haushalts- und Handwerkerhilfen sind dagegen die Spezialität von
Alois Adam. Mit Mütze und in einen dicken Anorak gepackt, schlendert
der pensionierte Stuckateur an seinem Gehstock den Flur entlang. Er
ist wieder einmal auf der Suche nach Beschäftigung. «Heute sind
leider keine Aufträge für mich da», sagt er bedauernd.
Büroassistentin Ute Wallraf und Zivi Lukas können ihm nichts mehr
anbieten ­ weder in der Hauswirtschaftsgruppe noch im Telefondienst.
«Es gab fast nie einen Tag, an dem Herr Adam nichts zu tun hatte.»

Um halb zwei ist Dienstübergabe im «Mehr-Generationen-Haus» C, dem
ein Kindergarten angegliedert ist. Auf dem Weg dorthin geht es vorbei
am Kaminzimmer und der Sitzecke mit Vogelkäfig. Die Fenstersimse sind
von Kakteen gesäumt, die sich dem spärlichen Außenlicht entgegen
recken. Dann kommt eine Erinnerungsecke: Altmodische Mokkatassen und
Likörgläser künden von vergangenen Zeiten. Vor der Wand eine Krippe
mit Plüschbär, am Fenster ein altes Radio, auf dem Schrank Porträts
verstorbener Bewohner. «Es gibt zu jedem eine Geschichte», flüstert
Maus.

Die Lautstärke bleibt gedämpft, als es in den sensibelsten Bereich
des Joachim-Neander-Hauses geht: Die Abteilung im Gebäude A, in der
Patienten mit schwersten Hirnschädigungen untergebracht sind. Pfleger
Thomas Kotowicz hat die Wachkoma-Station seit 2003 mit aufgebaut.
Mittlerweile leben hier neun Menschen, denen der eigene Körper zum
Gefängnis geworden ist. So auch Heinz-Jürgen Schidan, der laut
Kotowicz früher ein echtes Arbeitstier war. Nach einem Herzinfarkt
blieb sein Gehirn zu lange ohne Sauerstoff. Jetzt muss er seine
Wahrnehmung wie ein Säugling mühsam wieder aufbauen.

Zwei bis drei Mal pro Woche macht Logopädin Andrea Kugler-Sterzel
mit Herrn Schidan Übungen zur Wortfindung: Sie zeigt Kärtchen mit
Tierfotos, er versucht ­ ringend, stammelnd, fordernd ­ den passenden
Begriff zu finden. Schon die Vokale erweisen sich als schwierig. «Das
ist ein O, richtig, ein Oooooo», ermutigt ihn die Betreuerin, als er
einen Vogel erkennt. Schidans Augen sind wachsam, doch sein Blick
zuckt hin und her. Das Sprechen fällt ihm schwer. Meist gelingen ihm
nur wenige Brocken, der Rest geht in einem Stöhnen unter. Bei den
Schreibübungen läuft es dagegen besser: Mit einem Stift zeichnet er
die Buchstaben seines Namens nach. «Sehr gut, Herr Schidan!»

Nebenan starrt Petra Klimmeck regungslos an die Zimmerdecke. «Sie
hört und versteht gut, kann sich aber nicht artikulieren», erklärt
Kotowicz. Die Angehörigen haben ihr Zimmer mit Micky-Maus-Figuren
dekoriert, auf dem Nachttisch stehen gerahmte Familienbilder. «Ob sie
jemals wieder aufwacht, kann niemand sagen.» Gleiches gilt für Oliver
Schmidt. Seine gurgelnden Atemgeräusche sind über die ganze Station
zu hören. Der 32-Jährige war einst ein Baum von einem Mann - bis sein
Gehirn nach einer Herzmuskel-Erkrankung geschädigt wurde. Die Mutter
stellte ein Kindheitsbild von Oliver ans Bett. «Jede kleine Besserung
freut uns und die Angehörigen», sagt Kotowicz.

Wer derlei Schicksale zu meistern gelernt hat, beklagt sich nur in
Ausnahmefällen über das Pflegepersonal. Zumal die Wachkoma-Abteilung
im Joachim-Neander-Haus keine hermetisch abgeriegelte Station ist,
sondern ein vollwertiger Wohnbereich, in dem Besucher jederzeit
willkommen sind. Den Großteil der immensen Kosten müssen die
Angehörigen ohnehin selbst berappen: Im günstigsten Fall (Pflegestufe
2) schlägt die 24-Stunden-Rundum-Betreuung mit 5887 Euro pro Monat zu
Buche. Die Kassen übernehmen mit 1279 Euro nur einen Bruchteil davon.

Angesichts der Mühen, Zeit und Nerven, die sich in solchen Summen
widerspiegeln, erscheint Andreas Maus die aktuelle Debatte um Pflege-
Missstände als «ziemlich überzogen». Wenn der Medizinische Dienst d
er
Krankenkassen mehr Kontrollkompetenzen bekommen soll ­ bitteschön.
«Das finden wir ja gut. Risiken sollen aufgedeckt, nicht dramatisiert
werden.» Und Einrichtungen, die sich ihrer Qualität bewusst seien,
hätten nichts zu befürchten. Leistung statt Larmoyanz: In seinem
Heim, so versichert der Pflege-Manager, gebe es Vertrauen in die
eigenen Fähigkeiten. «Mehr Kontrollen allein bringen nichts.»

Ganz so falsch kann der Chef wohl nicht liegen, wenn auch seine
Stationsleiter jegliche Pauschalklagen über den «Pflegenotstand» als
unfair zurückweisen. «Viele Menschen haben ein zu negatives Bild»,
meint Maria Salamon. Doch von Ernüchterung kann in Haus C trotz aller
Kritik nicht die Rede sein ­ weder bei den Pflegern noch bei ihren
Schutzbefohlenen. Morgen feiert Frau Hahn ihren 100. Geburtstag, eine
Karnevalsfeier ist in Planung, und die Liste an der Wand verrät, wer
als Nächster dran ist. «Dort draußen spricht man immer nur von
Demenz, Krankheit und Sterben», sagt Maus. «Hier drinnen wollen wir
beweisen, dass gute Pflege zu einem würdigen Leben gehört.»

dpa jap yynwd a3 fk

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