Wenn der Silberlöffel im Pilzgericht schwarz wird - Sachverstand contra Volksglaube Von Christine Cornelius, dpa
Braunschweig (dpa) - Der Waldboden ist moosbedeckt und feucht. Es
riecht nach frischem Grün und nassem Holz. Eine kleine Expedition -
mit Rucksäcken und Körben ausgerüstet - setzt vorsichtig einen Fuß
vor den anderen. Dazwischen wuselt Laika umher und wirbelt Laub auf.
Die Hündin ist kaum zu bändigen - ein Waldspaziergang am frühen
Sonntagmorgen. Dass dabei Pilze im Vordergrund stehen, interessiert
sie nicht. Anders die achtköpfige Gruppe. Den Blick starr auf den
Boden gerichtet, hoffen die Teilnehmer rechts und links des Weges auf
das Glücksmoment: ein Steinpilz, eine Marone, eine Gruppe
Pfifferlinge - und alles möglichst madenfrei. Aber der Ausflug
verfolgt noch eine andere Absicht: Alle Teilnehmer wollen Pilze
kennen lernen, etwas über ihre Verwendung erfahren und auch, wovon
sie besser die Finger lassen sollten.
Und dann endlich der Ruf, auf den alle gewartet haben: «Hierher!
Was für ein schönes Exemplar!» Und so selten. Die Gruppe bildet einen
Kreis um Harry Andersson, der triumphierend ein kleines braunes Etwas
aus der Gattung der Sternpilze in die Höhe hält. Der 60-Jährige ist
geprüfter Pilzsachverständiger der Deutschen Gesellschaft für
Mykologie, zu deutsch Pilzkunde. Außerhalb des Waldes arbeitet er in
der Verwaltung des Luftfahrtbundesamtes - garantiert pilzfrei. Die
Wanderungen in der Natur empfindet Andersson als erholsamen Ausgleich
für seinen Bürojob. Regelmäßig bietet er Pilzführungen an, diesma
l
auf dem Pilzpfad Sundern bei Braunschweig.
Auf den Pilz gekommen ist der vollbärtige Mann durch seinen Onkel,
der früher bei Besuchen immer einen gefüllten Korb mitbrachte. Auf
seinen Führungen erfindet Harry Andersson die Geschichte allerdings
komplett neu: «Als meine Frau und ich geheiratet haben, einigten wir
uns darauf, dass bei Streit immer einer das Haus verlassen müsste.
Ich war dann also ziemlich oft an der frischen Luft... Tja, und so
habe ich meine Leidenschaft für Pilze entdeckt.» Die kleine Anekdote
wird jedes Mal mit schallendem Gelächter der Zuhörer belohnt. Auch
wegen solcher Augenblicke liebt Andersson die Pilztouren.
Eine Sammlerin entfernt sich immer wieder von der Gruppe. Gudrun
Berndt möchte ihr Pilzkörbchen fernab des ausgetretenen Weges füllen.
Außergewöhnliche Exemplare untersucht sie zu Hause unter ihrem
Mikroskop. Vor dem Reaktorunfall in Tschernobyl vor 21 Jahren ging
sie regelmäßig auf Pilzsuche. «Danach habe ich das erstmal gelassen
»,
sagt die 53-Jährige. Nun zieht sie wieder in den Wald. Anderssons
Führung hat ihre alte Leidenschaft zu neuem Leben erweckt. «Ich
glaube, jetzt fange ich wieder richtig an.» Zumindest in
Norddeutschland kann sie dies nach Aussagen von Experten bedenkenlos
tun.
«Die Strahlenbelastung niedersächsischer Maronenröhrlinge liegt
bei 147 Becquerel pro Kilogramm und damit deutlich unter dem EU-
Grenzwert von 600.» Lebensmittelexpertin Brigitte Ahrens von der
Verbraucherzentrale Niedersachsen zerstreut die Bedenken einiger
Ängstlicher. Höhere Werte werden allerdings in Süddeutschland
gemessen. Dort hatte es nach Tschernobyl stark geregnet, so dass die
radioaktive Belastung von Wildpilzen dort auch heute noch recht hoch
ist. «Deutschlandweit gibt es erhebliche Schwankungen.» Es sei daher
unsinnig, einen Durchschnittswert für das gesamte Bundesgebiet zu
errechnen. Zudem variiere der Wert je nach Pilzart, sagt sie.
Aber nicht nur die mögliche Belastung durch Radionuklide ist ein
Problem. Wildpilze können auch Schwermetalle aufnehmen und
anreichern. Ahrens empfiehlt daher, nicht mehr als 250 Gramm
Wildpilze pro Woche zu essen. «Schwangere und Kinder sollten darauf
ganz verzichten und auf Zuchtpilze zurückgreifen.» Außerdem sollten
Pilze bis auf 70 Grad erhitzt werden, um mögliche Eier des
Fuchsbandwurmes abzutöten.
Harry Andersson fürchtet dagegen auf seinen Pilztouren ein ganz
anderes Tier: die Zecke. «Das größte Berufsrisiko eines
Pilzexperten.» Vor jeder Exkursion besprüht er seine Schuhe
vorsorglich mit einem speziellen Ungeziefer-Spray. Die Teilnehmer der
Exkursion machen sich jedoch mehr Gedanken um eine mögliche
Pilzvergiftung. Andersson seufzt ergeben: «Auf jeder Tour läuft es
früher oder später darauf hinaus, dass alle etwas über Giftpilze
wissen wollen.» Er würde lieber die verschiedenen Funktionen von
Pilzen erklären oder die besonders bedrohten Arten aufzählen. Doch da
der Kunde bekanntlich König ist, gibt er sich nach kurzer Zeit
geschlagen und räumt zunächst mit einem weit verbreiteten Vorurteil
auf: «Knollenblätterpilze haben keinerlei Ähnlichkeit mit
Champignons.»
Wenn sich bei ihm jemand meldet und angibt, er hätte einen
Knollenblätterpilz mit einem Champignon verwechselt, kann Andersson
nur müde lächeln. «Die Leute wollen einfach nicht zugeben, dass sie
unvernünftig gewesen sind und einen Pilz gegessen haben, den sie
nicht kannten.» Sein wichtigster Tipp an alle Pilzsammler lautet
daher: «Nur Pilze sammeln und essen, die man wirklich ganz sicher
kennt.» Im Zweifel sollte ein Sachverständiger den Fund untersuchen
und giftige Exemplare aussortieren. «Sonst kann es böse enden.»
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kamen 2005 bundesweit
sechs Menschen durch Pilzvergiftungen ums Leben. Allein in
Norddeutschland wurden 2006 insgesamt 384 Fälle mit Verdacht auf
Pilzvergiftung registriert, wie das Giftinformationszentrum-Nord
(GIZ) in Göttingen belegt.
Wer tatsächlich einen Knollenblätterpilz gegessen hat oder es
zumindest vermutet, sollte sich schleunigst im Krankenhaus den Magen
spülen lassen, rät Dieter Müller vom GIZ. Denn der hochgiftige Pilz
wirkt schnell. Da hilft auch keine Milch, die angeblich entgiftend
sein oder zumindest einen Brechreiz auslösen soll. Das ist
Volksglaube und laut Müller «purer Unsinn». Ebenso, dass eine Zwiebel
in gekochten giftigen Pilzen schwarz wird oder sich ein Silberlöffel
dunkel verfärbt. Dies sage überhaupt nichts über den Giftgehalt der
Mahlzeit aus. Auch wenn sich dem Experten bei so viel Unverstand die
Haare aufstellen - verbreitet ist ein solcher Aberglaube auch heute
noch vielfach - im 21. Jahrhundert.
Namensvetter Georg Müller gibt dem Klimawandel die Schuld am
Wachstum immer neuer, zum Teil hochgiftiger Pilze. Der
Sachverständige aus dem benachbarten Ganderkesee verzeichnet in
seinem Gebiet jährlich bis zu 30 Vergiftungsfälle. «Vor 15 Jahren gab
es dieses Problem noch so gut wie überhaupt nicht.» Verantwortlich
für die neue Artenvielfalt macht er vor allem die gestiegenen
Temperaturen. Müller empfiehlt Pilzfreunden, sich ein gutes und vor
allem aktuelles Bestimmungsbuch zuzulegen und die Hinweise darin
ernst zu nehmen. Allzu schnell sollte sich allerdings niemand zum
Fachmann erklären.
Harry Andersson ist der gleichen Meinung. «Eine Pilzführung macht
noch niemanden zum Experten», sagt er mit einem warnenden Blick in
die kleine Runde. «Außer natürlich, jemand ist schon vorher einer»,
fügt er hinzu und lacht. Damit meint er nicht sich selbst, sondern
Joachim Dreyer, der auf dem Rundgang nicht viel Neues erfährt, aber
seinen Spaß daran hat. Im Herbst möchte er seine Prüfung zum
Pilzberater ablegen. «Mir fehlt nur noch der Bestimmungsteil, aber
der ist leider der schwierigste.»
Auch Erich Münch-Krause hört Anderssons Ausführungen aufmerksam
zu. Der 47 Jahre alte Sozialpädagoge organisiert Ferienaktionen für
Grundschulkinder. Für den Herbst plant er eine kindgerechte
Pilzführung. «Da darf ich natürlich nichts Falsches erzählen.» F
ür
Hans-Joachim Doil hingegen ist der morgendliche Ausflug in die Welt
der Sporengewächse Neuland. Sein Wissen über Pilze ist nach eigenen
Worten «gleich null». Sein Interesse jedoch auch, wie er lachend
zugibt. Bis jetzt noch. «Ich sehe das Ganze hier als Spaziergang.» Er
sei nur seiner Frau zuliebe dabei.
«Was bleibt der hier jetzt stehen? Hier ist doch gar nichts»,
denkt Doil, als Andersson die Runde um sich versammelt und auf die
kleinen Pilze am Wegesrand hinweist, die mit bloßem Auge kaum
erkennbar sind und die er sonst im Wald gar nicht wahrnehmen würde.
Nun ist sein Interesse doch geweckt. Und vielleicht packt den 56-
Jährigen eines Tages ja doch noch das Pilzfieber.
Gesteigertes Desinteresse an der Führung zeigt derweil nur Hündin
Laika, die lieber herumtollt oder Stöckchen jagt, als sich um Pilze
zu kümmern. Essbar hin oder her.
(Internet: www.dgfm-ev.de, www.giz-nord.de)
dpa ho yyni a3 fk
Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK
Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.