Zahl der Abtreibungen steigt auf höchsten Stand seit Jahren Von Lukas Fortkord, dpa

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland steigt.
Expertinnen sehen darin auch eine Ohnmacht in der Gesetzgebung.

Wiesbaden (dpa) - Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist im
vergangenen Jahr auf den höchsten Stand seit dem Jahr 2012 gestiegen.
2023 wurden in Deutschland rund 106 000 solcher Fälle gemeldet, wie
das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte. Höher
sei die Zahl zuletzt im Jahr 2012 gewesen - mit damals 107 000
Fällen.

Strafrechtlerin Liane Wörner von der Universität Konstanz führt die
Entwicklung auch auf die «Gesamtdebatte über die Streichung des
Werbeverbots zum Schutz vor Schwangerschaftsabbrüchen» zurück.
Dadurch habe «eine neue allgemeingesellschaftliche Diskussion
eingesetzt», durch die Frauen «anders und öffentlicher mit
Schwangerschaftsabbrüchen umgehen», sagte Wörner der Deutschen
Presse-Agentur.

Aus Sicht von Wörner können zwar nicht alle ungewollten
Schwangerschaften verhindert werden. Aber die Zahl könne gesenkt
werden - nämlich mit einer kinderfreundlichen Gesellschaft, mit Hilfe
für Personen in vulnerablen Lebenslagen und für Alleinerziehende, mit
sexueller Aufklärung, Kitaplätzen und freien Verhütungsmitteln, wie
Wörner aufzählte. «Das sind Dinge, die wir brauchen, nicht
Strafrecht.»

2022 hatte der Bundestag die Abschaffung von Paragraf 219a des
Strafgesetzbuchs, also das Werbeverbot für Abtreibungen beschlossen.
Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob auch der Paragraf 218 des
Strafgesetzbuchs abgeschafft werden soll, nachdem eine Abtreibung in
Deutschland grundsätzlich rechtswidrig ist.

Debatte wieder aufgeflammt 

Diese Debatte war zuletzt wieder besonders kontrovers geführt worden,
nachdem eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission empfohlen
hatte, Abtreibungen in den ersten Wochen einer Schwangerschaft zu
entkriminalisieren. Die Empfehlungen würden jetzt regierungsintern
beraten und anschließend an die Fraktionen weitergeleitet. Einen
Zeithorizont könne noch niemand nennen, hieß es vergangene Woche.

Daphne Hahn, Gesundheitswissenschaftlerin an der Hochschule Fulda,
hat ebenso wie Strafrechtlerin Wörner an den Empfehlungen mitgewirkt.
Hahn sieht vor allem Probleme bei der Betreuung vor einem
Schwangerschaftsabbruch. Frauen hätten bereits am Anfang, wenn es
noch überhaupt nicht um die praktische Durchführung des
Schwangerschaftsabbruchs geht, Probleme und Schwierigkeiten bei der
Informationssuche, «weil sie den Schwangerschaftsabbruch geheim
halten wollen oder müssen und weil sie denken, dass Menschen schlecht
über sie reden oder auch denken». Diese Stigmatisierung sei ein
großes Thema beim Schwangerschaftsabbruch.

Regional gebe es zudem unterschiedliche Hürden: «Wir haben uns auch
die regionale Versorgungslage angesehen und festgestellt, dass Frauen
in manchen Regionen mehr Barrieren überwinden müssen, um einen
Schwangerschaftsabbruch zu bekommen.» Beispielsweise müssten dort
längere Wege in Kauf genommen werden. Auch die Preise für einen
solchen Eingriff seien dort höher. «Sie haben es insgesamt schwerer,
in schlechter versorgten Regionen einen Schwangerschaftsabbruch zu
bekommen.» Hahn nennt als Beispiele die Bundesländer Bayern und
Baden-Württemberg. In Großstädten gelinge der Zugang leichter, aber
in den anderen Regionen machten die Frauen deutlich schlechtere
Erfahrungen.

Große ethische Bedenken bei Schwangeren-Bluttests

Mehr als 120 Politiker verschiedener Parteien im Bundestag forderten
unterdessen auch wegen ethischer Bedenken eine Überprüfung von
Bluttests in der Schwangerschaft auf Trisomie als Kassenleistung.
Abgeordnete von Union, SPD, Grünen, FDP und Linken halten es für
problematisch, dass der sogenannte nicht-invasive Pränataltest (NIPT)
seit Sommer 2022 von den Krankenkassen übernommen wird. Der Bluttest
zur Bestimmung des Risikos einer Behinderung des Babys könne werdende
Eltern in extrem schwierige Situationen stürzen.

Die Kritiker haben große ethische Bedenken. Sie fordern von der
Bundesregierung eine Datenerhebung, die erfasst, wie viele Schwangere
den Test aus welchen Gründen in Anspruch nehmen und wie sich die
Geburtenrate von Kindern mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) entwickelt.

Abbrüche meist nach der sogenannten Beratungsregelung 

Die weitaus meisten Abtreibungen, nämlich 96 Prozent der im Jahr 2023
gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche, wurden nach der sogenannten
Beratungsregelung vorgenommen. Nach der Regelung bleibt ein
Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn
die Frau sich zuvor beraten lässt. Ohne Strafe bleibt ein Abbruch
zudem, wenn medizinische Gründe vorliegen oder wenn er wegen einer
Vergewaltigung vorgenommen wird. 

Indikationen aus medizinischen Gründen und aufgrund von
Sexualdelikten waren in vier Prozent der Fälle die Begründung für den

Abbruch, hieß es vom Statistischen Bundesamt. Die Eingriffe erfolgten
überwiegend ambulant, davon rund 84 Prozent in Arztpraxen
beziehungsweise OP-Zentren und 14 Prozent ambulant im Krankenhaus.